Die Reihe „Der doppelte Gast“ führt jeweils zwei Dichter oder Dichterinnen zu einer gemeinsamen Lesung zusammen, meist zu einer Vorstellung ihrer jüngsten Gedichtbände. Zwischen den beiden präsentierten dichterischen Stimmen entsteht dabei ein Dialog und eine Beziehung, zumal der erste Gast den zweiten Gast vorschlägt bzw. einlädt. Dieser Dialog kann Ähnlichkeiten oder auch starken Kontrast zeigen. In jedem Fall fungieren die Werke wechselseitig als Erkenntnisfolie.
So waren bislang Thomas Ballhausen und Helwig Brunner, Franz Dodel und Mila Haugová, Kerstin Preiwuß und Nadja Küchenmeister, Christoph Wenzel und Karin Fellner, Margret Kreidl und Tom Schulz, Ulrich Koch und Thomas Kunst, Ursula Krechel und Daniela Danz, Àxel Sanjosé und Tristan Marquardt und Kathrin Schmidt und Birgit Kreipe zu Gast – viele von ihnen gehören zu den namhaftesten Lyrikerinnen im deutschsprachigen Raum. Alle Lesungen wurden auch aufgenommen und sind auf dem KULTUM-Youtube-Kanal gespeichert und abrufbar.
Bisher fanden in dieser Reihe vier Abende statt: Thomas Ballhausen lud Helwig Brunner ein, Franz Dodel las mit Mila Haugová. Im Frühjahr 2021 folgten am 18. Juni 2021 Kerstin Preiwuß und Nadja Küchenmeister und am 25. Juni Christoph Wenzel und Karin Fellner.
Mit Kerstin Preiwuß kam eine lyrische Stimme nach Graz, die ausgezeichnet mit dem Lyrikpreis Meran nach den wunden Punkten im Leben sucht. Mit ihrem dritten Gedichtband „Taupunkt“ führt sie also fort und beschließt, was sie mit dem Band „Rede“ begann und in „Gespür für Licht“ weiterverfolgte: Für die Dauer einer Nacht setzt ein Sprachstrom ein, vergleichbar mit einem tiefen Einatmen, das unerschrocken durch alle Schichten des Ichs dringt. Dort nämlich setzt ihr Dichten an und sucht Zusammenhänge zwischen Sprache und Atem, zwischen Sprache und Körper. So entwickelt Preiwuß in rätselhaft zarten und klangmagisch aufregenden Gedichten geheimnisvolle Schöpfungsgeschichten, Fantasien von „Taupunkten“, die zu Verwandlungs- und Aufenthaltsorten für menschliches, tierisches und pflanzliches Dasein werden. Wie naturmystische Wasserstoffzüge steigen diese Gedichte auf, dorthin, wo Bewegung und Ruhe im Gleichklang sind und das Denken sich von seinen Absichten löst, am Taupunkt der Sprache also, wo die Worte wie Wasserdampf in der Luft enthalten sind, denn von da aus kondensieren sie oder schlagen sich nieder als Tau.
Begleitet wurde Kerstin Preiwuß von Nadja Küchenmeister, die ebenfalls aus ihrem dritten Gedichtband „Im Glasberg“ lesen wird, einem Band, der völlig vertraut auf den poetischen Ausdruck, die literarische Tradition des Märchens und den Alltag als Quell poetischer Verwandlungen. Küchenmeisters Gedichte haben etwas zutiefst Kindliches, in dem sie Ich und Du, Innen- und Außenwelt miteinander verschmelzen.
Mit Christoph Wenzel und Karin Fellner waren Ende Juni zwei Lyriker zu Gast, die ihre Gedichte stets als bewusste Fortsetzung einer uralten Natur- und Seelenerkundung, als Geste einer „natürlichen Versprachung“ verstehen. Christoph Wenzel wird an diesem Abend aus seinem in Arbeit befindlichen Manuskript mit dem vorläufigen Titel „das silodenken der maisfelder“ lesen, das nach Abschluss in der Edition Korrespondenzen erscheinen wird. Für einen Auszug aus diesem Manuskript wurde ihm 2020 der Dresdner Lyrikpreis zuerkannt. Karin Fellner wird aus ihrem Band „eins: zum andern“ lesen, ein Band, der, wie es Christoph Wenzel, der sie nach Graz eingeladen hat beschreibt, „eine Art mehrdimensionaler semantischer, morphologischer und bildhafter Klettergarten [ist], der durch die Liebe, die Natur und durch die Sprache selbst führt.“