Umberto Ecos Diagnose, daß sich "intellektuelle oder moralische Indifferenz" ausbreite, ist schlicht beizupflichten. Besorgt ruft Eco zu einer gesteigerten Wachsamkeit professioneller Denker gegenüber Verharmlosung gefährlicher, insbesondere rechtslastiger Themen und Verführungsversuchen von bestimmten Seiten auf. Die Angst vor der Vereinnahmung kann sich aber auch zu einem neurotischen Syndrom auswachsen. Der Besuch eines Ortes, der "Minoriten", könnte demnach von besonders Wachsamen zu einem politischen Akt stilisiert werden. Die Gefahr, die "Macht des Ortes" (Eco) zu geringschätzen, ist sicher gegeben. Wenn gewisse Orte aber nicht mehr unbefangen betreten werden dürfen, sind auch der intellektuelle Streit, der Dialog und die Kommunikation zu Ende. Welche Gefahr größer ist, muß jeder einzelne für sich abwägen. Aus meiner Erfahrung ist das Betreten eines weltanschaulich, geistig oder ideologisch woanders stehenden Hauses wichtiger als das Fernbleiben.
Der anarchistische Haß gegen freiheitsraubende Tendenzen in der Institution Kirche, die Furcht vor der Vereinnahmung aus Machtzwecken, sind berechtigt. Aber nicht immer warten bezahlte Seelenfänger, gewissenlose Handlanger der katholischen Kirche darauf, daß liebe, naive Menschen hintergangen und nutzbar gemacht werden. Manche betrachten ja redlich Bemühte nicht gerade als Schurken, aber als PR-Agenten und Lebensverlängerer einer für sie obsolet gewordenen Institution. Die Angstlichkeit vor dem Berührtwerden ist ernst zu nehmen. Öffentliche Versuche verzweifelter Frömmler von höchst fragwürdiger Praxis der Kirche Verletzte als phantasierende Neurotiker abzuqualifizieren, sind ebenso fatal wie die geheimen Dummheiten von klerikofaschistischen, ständig nach unbedingtem Gehorsam rufenden Kleininquisitoren.
Wenn die Kirche versucht, mit ausgeklügeltem Einsatz nur Proselyten zu machen, soll sie streng und unnachgiebig kritisiert werden. Wenn "lahme" Amtsträger "blinde" Geistliche führen wollen, um einen Vers aus Shakespeares "König Lear" zu variieren, sollen Wachsame schreien. Wird bauernschlaue, pseudojesuitische Strategie angewendet, um die Menschen doch noch auf den rechten Weg zu bringen, soll dieses Vorhaben entlarvt werden. Wird ein versteckter Kulturkampf neu geführt, soll niemand zögern, es laut und offen zu sagen. Dieser Meinungskampf sollte aber ohne den Schutz eines sich gegenseitig vorgehaltenen, unsichtbaren Schutzschildes ausgetragen werden, damit weder "katholische" Intrige noch "linke" Lüge die Oberhand behalten und gemeinsam triumphieren können.
Natürlich ist das eine nicht gerne gehörte Forderung, ein Ruf nach der Moral, die in einem fernen Nirgendwo eine feine Utopie wäre. Es war jedenfalls der gute Vorsatz in frühen Pionierzeiten. In dieser Gesinnung bin ich vor bald zwanzig Jahren angetreten, um Kultur bei den Minoriten zu "machen". In der Zeit der auslaufenden 68er-Revolution war es noch programmatisch üblich, einen Marsch durch die Institution zu probieren.
Den Parolen dieser wilden Jahre von innen heraus zu reformieren, die Gesellschaft und ihre Institutionen durch Revolte in Bewegung und Atem zu halten, bin ich nicht sklavisch verfallen, jedoch in der Grundtendenz bis heute treu geblieben - ohne umstürzlerische, falsche Omnipotenzgefühle, auch wenn es für Besorgte oder Verantwortungsmaniker in der Kirche und mit ihr sympatisierenden christdemokratischen Parteifunktionären manchmal so angesehen hatte.
Klassisch ausgedrückt gibt es auch das kluge, römisch lateinische Wort vom "semper reformanda" oder die erotisch pädagogische Variante der Franzosen, der "education permanente". Es ist nicht leicht zu verstehen, warum ein "Gespräch der Feinde", wie es der manchen im katholischen Milieu unbequeme Historiker Friedrich Heer mit dem 1952 noch kommunistischen Osten wollte, nicht auch für Feinde des jeweiligen Milieus heutiger Tage gelten sollte. Hinter diesem Begehren, miteinander lustvoll zu streiten, steckte nicht anmaßender, missionarischer Eifer, weltanschaulich in eine Richtung lenken zu wollen. Denn, Wahrheitssuche im Geistigen ist immer radikal, wenn es ernst wird, alles andere ist schal und lau. Da nützt kein noch so hübsches Taktieren und treffliches Lavieren. Die Ablehnung von Suspendierten, die Scheu vor Dissidenten, vor Abweichlern, vor dem Schillern der Grenzgänger, die als Rohdiamanten beim Schleifen oft Funken der Wahrheit versprühen, waren und sind unbegründet. Die Erfahrung deutet darauf hin, daß damit ein System, ein Programm "biologisch" in Schwung gehalten werden kann.
Von der Nützlichkeit des liberalen Feigenblattes in monolithischen Institutionen wird in immer weniger ideologisierten, pluralistisch-relativen Zeiten kaum noch geredet.
Auch von der Alibifrau, dem Alibimann ist weniger zu hören. Das hat sicher mit dem vielbeklagten Orientierungsverlust und Wertezerfall zu tun, die "Lager" zerbröseln, die Grenzen fließen, lechts und rinks, wie der humorvolle Poet Ernst Jandl als einer der ersten über den politischen Ideenkampf scharf- und feinsinnig dichtete. Bildungseinrichtungen, Kulturzentren, auch die "Minoriten", sind wie alle aktiven Institutionen, einzig und allein an ihrem Tun und Handeln, am Umgang mit Menschen, an den Programmen, an den "Produkten" zu messen - an ihren Früchten zu prüfen. An den Unterstützungen, an dem gewonnen Profil, das geistig unabhängig ist oder nicht. An sonst nichts, wie ich meine.
Wenn mir eine politische Partei den Auftrag vor bald 20 Jahren erteilt hätte, Kultur zu "machen", hätte ich den Auftrag nicht nach seiner Dienstbarkeit für die Zwecke der Partei beurteilt, auch wenn das cui bono, die Nützlichkeit nach Meinung der ökonomisch überlegten Konzeptersteller wegen der Kosten Vorrang zu haben hat. Ob in der Endabrechnung durch die Einrichtung dieses "Hauses" mehr Kosten oder mehr Nutzen entstanden ist, mögen kühle Rechner debattieren. Jedoch, Peter Altenbergs frivoler Satz:
"Wes Brot ich esse, des Lied singe ich noch lange nicht", ist für mich aber schon lange eine Art Credo. Ein Kulturauftrag ist ein universaler Auftrag, den Menschen in seiner Einzigartigkeit mit allen Eigenschaften in einem Programm vorkommen zu lassen. Da gibt es kein drohendes Humanum, das Unternehmungen eines kirchlichen Kulturhauses profanieren oder sogar entsakralisieren könnte. Außer die Religion, in meiner Definition, an das Leben zu glauben, kommt programmatisch zu kurz.
Zum Schluß sei ein altes, vergilbtes Foto aus der Schublade der Vergangenheit geholt: Nützliche Idioten bestellen das Feld der klugen, bösen Laizisten, die dann nur noch ernten müssen,was andere tölpelhafterweise gesät haben. Diese Angst, diese Einbahnmentalität galt es jahrzehntelang zu bekämpfen. Wer es wagte und Worte wirklich ernst nahm, die "Eierschalen der Klerikalisierung" (Bischof Johannes Weber) abzulösen, geriet in den Strudel derer, die einmal ausgebrütete Eier heil halten und das lebenssprühende omelette surprise nicht zubereiten wollten.
Harald Seuter (1941–2016) war "weltlicher Leiter" des Kulturzentrums bei den Minoriten von 1976–1997.
Text aus: 20 Jahre Kulturzentrum bei den Minoriten (1995)