SCHLAGLICHT - Bruno Latours Zirkulieren rund um robuste Fakten
„Unter seinem Einfluss stehen auch und gerade solche Wissenschaftlerinnen, die vielleicht nie ein Buch oder einen Aufsatz von ihm gelesen haben“ – es gibt wohl nicht viele Intellektuelle, von denen derartiges behauptet wird. Obwohl ich mittlerweile selbst nun „Aufsatz und Buch“ von ihm gelesen habe, kann ich mich der hier zitierten Einschätzung des Zeit-Journalisten Tobias Haberkorn über den Philosophen Bruno Latour nur anschließen: Dieser Denker vermochte es, seine wissenschaftlichen Thesen so zu vermitteln und mit Lebenswelt und Handlungsorientierung zu verknüpfen, dass auch jene, die nicht nächtelang philosophische oder wissenschaftssoziologische Traktate verschlingen, sondern handfeste und praxisnahe Ansprüche an die Wissenschaft stellen, sich von ihm inspirieren, bewegen und berühren – wenn man so will auch: aufrühren – ließen.
Klima-Aktivismus statt Science Wars
Erdachte dieser aus dem französischen Burgund stammende, kreative Katholik und 2022 75jährig verstorbene Winzersohn ab den späten siebziger Jahren noch sozialkonstruktivistische und wissenschaftssoziologische Thesen und war Mitbegründer der (für spätere ökologische Analysen sehr produktiven) Akteur-Netzwerk-Theorie, so vollzog er ab der Jahrtausendwende – vor allem aber seit dem Klimagipfel von 2015 – eine zunehmende Hinwendung zum Aktivistischen. Er warnte nun eindringlich vor dem Missbrauch des Konstruktivismus durch die Trumps, Faktenverdreher und Klimawandelleugner dieser Welt. Er erdete sich quasi, weil es ihm weniger (oder zumindest nicht nur) um Rechthaberei oder die Deutungshoheit in den „science wars“ seiner Zeit, als um die Welt an sich ging. Eine Welt, die – so (sprachlich) konstruiert sie aus unserer Sicht auch sein mag – real bedrängt und gefährdet ist und in der die vom Menschen geschundene und entfesselte Natur nun mehr und mehr als aggressiver Akteur die Bühne betritt: Es ist die Welt des Anthropozäns, der brennenden Wälder, der steigenden Temperaturen und auf uns einprasselnden Extremereignisse. Eine Welt, die von rechtspopulistischen, postfaktischen und rücksichtslosen Politikern (das Nicht-Gendern ist besonders hier angebracht) so schlimm behandelt wird, als würden sie nicht auf ihr leben, nicht von ihr ernährt, nicht von ihr getragen werden.
Die klimabewegte Politisierung des alternden Bruno Latour kam nicht nur auf rationalen und naturwissenschaftlichen, sondern durchaus auf mythischen und theaterpädagogischen Sohlen daher und hatte laut Tobias Haberkorn „etwas Lyrisches, Fantastisches, auch zunehmend Religiöses“. Zugegeben: Auch eine Portion Endzeit-Pathos und Professoren-Liturgie waren da mit im Spiel. Doch ging es dem französischen Denker im letzten Drittel seines Lebens aller Inszenierung zum Trotz längst nicht mehr um abgehobene Glasperlenspiele von ökologisch-liberalen Besserwissern oder gar um ein verlogenes „Theater, wo man sich trifft und sich austauscht“ (so der entsetzte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber über den jüngsten Klimagipfel in Dubai 2023), sondern um konkretes Tun: nämlich um den „Kampf um Gaia“ und die Vermeidung der Klimakatastrophe.
Wir müssen uns neu „erden“
Diese Hinwendung zum Aktionalen und zum Planetaren war weder für Latour selbst noch für seine oft sehr jungen „Follower“ ohne eine hemdsärmelige Hinwendung zur Faktenbejahung zu haben. Während viele kulturwissenschaftlich, poststrukturalistisch oder diskursanalytisch gepolten Geistesmenschen es sich in ihren hermetischen Tintenburgen lauschig eingerichtet haben und sich von ihrer obsessiven Fixierung auf die Macht der Sprache auch dann nicht lösen wollten, als die Polykrise (Klima! Corona! Krieg!) längst nach faktenorientierten und realistischen wissenschaftlichen Ansätzen verlangte, scheint mir Latour einen anderen Weg gegangen zu sein. „Down to Earth“ heißt etwa eines seiner ökologischen Manifeste. Wenn der bildungsbürgerliche Edel-Ökoaktivist Latour in solchen Klimatexten über das „Unfruchtbarwerden der Böden“ klagte, dann war da nicht nur moralisches Pathos dabei, sondern er fühlte sich existenziell wohl auch auf seine weinbäuerliche Herkunft zurückgeworfen. Es ging ihm und geht uns nun ums Ganze, ums Persönliche, Ureigene, den echten Boden unter den Füßen – und nicht mehr um akademische Sprachspiele. So kann „Down to Earth!“ auch als Aufruf mit dickem Rufzeichen zur Umkehr in Bezug auf das postmoderne Paradigma des oft weltfremden Dekonstruierens von Fakten um jeden Preis gelesen werden. Denn nicht nur die postfaktische Rechte, sondern auch die Latour teils sehr wohl gesonnene poststrukturalistische und kulturwissenschaftliche Linke hat in einer seltsamen diskursiven Allianz mit Ersterer jahrzehntelang außersprachliche Realitäten derart in Frage gestellt, dass man heute seine liebe Müh‘ und Not hat, den Klimawandel (oder die Wirksamkeit von Corona-Impfungen) als anerkanntes Faktum zu etablieren. Das Klima war Latour letztlich wichtiger als Konstruktivismus und die Klimawissenschaften wollte er vor den Attacken der rechtspopulistischen Klimawandelleugner und radikalen Konstruktivistinnen geschützt wissen.
Substanz braucht Fakten
Ich erinnere mich noch gut an eine „Vorlesung mit Übung“ zu historischer Kulturwissenschaft und Diskursanalyse, die ich vor mehr als zehn Jahren als Geschichte-Doktoratsstudent in Graz besuchte. Ich, damals noch nicht mit den Texten Bruno Latours in Berührung gekommen, bekam gemeinsam mit der Gruppe vom Ko-Dozenten, einem sehr selbstbewussten Konstruktivisten, progressiven Poststrukturalisten und – ja – „pubertären Theoretiker“ (Michael Hampe) Latours Aufsatz „Zirkulierende Referenz“ zu lesen. Es geht darin um Bodenstichproben aus dem Amazonasgebiet und um Science in the Making sowie „die Aufzeichnungs- und Repräsentationstechniken des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses“, so Wolfgang Göderle und Manfred Pfaffenthaler. Es geht also auch um das Verwerten, Ausdeuten und wissenschaftliche Versprachlichen von derartigen Erdklumpenfunden. Für mich zeigte Latour in diesem Text, neben vielem anderen, zwar ein großes Bewusstsein für den Konstruktcharakter jeglicher Erkenntnis – doch auch wenn wir uns die Welt sprachlich herbeireferenzieren und gedanklich erkonstruieren, können wir uns doch „über eine Serie von Transformationen“ auf die Dinge und Realitäten in dieser Welt wissenschaftlich „beziehen“ (Latour). Der französische Gelehrte schien mir hier also durchaus bereit zu sein, faktische Setzungen vorzunehmen und sich bis zu einem gewissen Grad auf den Boden der (außersprachlichen) Tatsachen zu stellen oder gar in ihn – den Boden unter unseren Füßen – erkenntnissuchend hineinzugreifen. Auch Markus Lilienthal schrieb in einer Rezension des erwähnten Latour-Aufsatzes, dass trotz Latours „Einsicht in die Vermitteltheit der Dinge“, diese Dinge nicht „ihrer Substantialität […] beraubt“ sind. Als ich dem Ko-Dozenten meine bodennahe Lesart des Aufsatzes vermittelte, schaute mich dieser nur skeptisch, ja fast enttäuscht an. Er der Konstruktivist, hätte das Spiel mit den Referenzen lieber weiter zirkulieren lassen, am besten ad infinitum – zu so etwas wie einem faktischen Kern, einer belastbaren Arbeitshypothese oder einer „Wahrheit“ kommen, das wollte er wohl nicht. Nun ja, der theoriefreudige Dozent und fiebrige Vielleser hat wohl nie persönlich erlebt, wie es sich anfühlt, wenn der sprichwörtliche Boden unter den Füßen, auf dem die landwirtschaftliche Existenz einer ganzen Familie ruht, wegen Klimawandel und Umweltverschmutzung mehr und mehr unfruchtbar wird, wenn keine Substanz mehr da ist, ergo auch keine Subsistenz, nichts zum Leben. Latour, der Winzersohn, hatte wohl zumindest eine leise Ahnung von diesem Drama, das nicht nur ökologische Konsequenzen hat. Dass mit Phänomenen wie dem Klimawandel daher auch soziale Fragen verbunden sind und hier die „intellektuelle Leitfigur des […] postkolonialen Diskurses besonders herausgefordert“ ist, hat die Ko-Dozentin des Radikalkonstruktivisten im Grazer Hörsaal später – bei aller Kritik an den „Heilserwartungen an die Naturwissenschaften“ – durchaus erkannt.
Terrestrischer Kampf gegen Trump
Bruno Latour hat in seiner späten Schaffensphase dem Terrestrischen, den „Critical Zones“ der Natur und dem bedrohten Planeten daher eine klare politische Stimme gegeben. Leander Scholz ist gewiss recht zu geben, wenn er das Ausbleiben einer konkreten Handreiche für eine ökologische Politik aus der Feder des Philosophen erwähnt: „Aber wie diese Politik unter demokratischen Bedingungen zu gestalten ist, bleibt auch nach der Lektüre seines Buches fraglich“. Doch wäre es wohl zu viel gewesen, derartiges von Bruno Latour, dem Philosophen, zu verlangen. Ihm ging es mehr um eine Kultur der (ökologischen) Erkenntnis, um geistige Erdung, ums aktivistische Anstoßen, einen straffen politischen Pfad vermochte er nicht vorzugeben – und das ist vielleicht auch gut so, wenn man an die jüngsten antisemitischen Entgleisungen von Greta Thunberg denkt. Entsetzt über die Wahl des „Tweeter in Chief“ und des von ihm aus dem Weißen Haus heraus angestoßenen Austritts der USA aus den Pariser Klima-Abkommen sowie das vom Vulgärkonstruktivisten Trump angeheizte „epistemological disaster“, schrieb Latour in einem seiner Manifeste: „Facts remain robust only when they are supported by a common culture, by institutions that can be trusted“. Robuste Fakten! In einer Zeit, in der der seit Jahrzehnten kultivierte und völlig entfesselte Konstruktivismus und „Campus Radicalism“ an (US-amerikanischen) Universitäten indirekt dem Postfaktizismus und der Klimawandelleugnung eines Donald Trump – der zum Wiedergänger im Weißen Haus werden könnte – zuarbeitet („Komm, wir erkonstruieren uns die fossile Welt, wie sie uns gefällt!“), ist es Latour schon hoch anzurechnen, als Geistesmensch handfest auf die von naturwissenschaftlichen Kollegen herausgearbeitete ökologische Realität zu verweisen und für sie einzustehen. Und heute, in einer Zeit, in der hochrangige Vertreter der erwähnten „Ivy-League“-Unis sich oft selbstgerecht in postkolonialer und progressiver Sprachpolitik üben, es aber nicht vermögen, etwa dem wüsten – faktischen – Antisemitismus unter ihren Studentinnen und Aktivisten Einhalt zu gebieten, ja in einer Zeit des weit aufklaffenden „epistemologischen Abgrunds“ (Jill Lepore) und der gleichzeitig ungebrochen voranschreitenden ökologischen Dekonstruktion – da fehlt einer wie Bruno Latour.
Florian Traussnig