SCHLAGLICHT - Die Bahnhofs- und Kellergespräche der Ágnes Heller
Man kann „nicht beantworten, sondern nur beleuchten“. (Ágnes Heller)
„Die Idee des universalen Fortschritts, der großen Marxschen Erzählungen vom künftigen Paradies, vom besseren Menschen: alles gründlich vorbei“, so resümiert Elisabeth von Thadden in der Zeit nüchtern über das geschichtsphilosophische und eminent politische Denken von Ágnes Heller (1929-2019). Geht es nach dieser 1944 15jährig den Deportationen und Genickschüssen der Nationalsozialisten mit Glück entkommenen, noch beim marxistischen Ästheten Georg Lukacs in die Lehre gegangenen, aber sich bald vom Kommunismus und jeglichen weiteren „-ismen“ abgewandt habenden ungarischen Philosophin, so lasse sich der Homo sapiens „nicht perfektionieren. Er sei, was er ist.“ Uns Menschen, bleibt demnach am Ende einzig „das Gespräch, um des Gesprächs willen.“
Von Plato zu NATO
In ihren bereits 1954/55 an der Budapester Universität für Wirtschaftswissenschaften abgehaltenen – später dank der Mitschriften ihrer ehemaligen Studenten rekonstruierten – Vorlesungen zur Philosophiegeschichte deckte Heller „von Plato zu NATO“ alles ab. Die von ihr selbst stammende saloppe Formulierung skizziert bereits den (späteren) weltanschaulichen Weg Hellers, der sie in ihren eigenen Worten „von einer Art Kommunismus zu einer Art Liberalismus“ führen sollte: Spätestens nach dem Scheitern der von ihr mitgetragenen antistalinistischen Revolution in Ungarn von 1956 modifizierte sie nicht nur ihre philosophische Terminologie („[I]ch verwendete […] nicht länger den Begriff ‚dialektischer Materialismus‘, an dessen Existenz ich nicht mehr glaubte“); vielmehr distanzierte sie sich seitdem von der utopischen Fixierung auf – im real existierenden Sozialismus schnell zu starren Ideologien geronnenen – hehre Ideen und „versuchte“, wie es Kardinal Walter Kasper in einem ähnlichen Kontext in der Zeit ausdrückt, „die Ideen mit der nicht immer idealen Wirklichkeit und mit der Praxis des Lebens zu verbinden.“ Über Plato und „die Idee des Guten“, so Heller, nachdenken, aber auch der NATO – nur wenige Jahre nach ihrem Tod, mit dem Krieg in der Ukraine und dem Zerbröseln radikalpazifistischer Dogmen, hallt die rationalistische Ideologiekritik Hellers als Echo nach – realistisch, vorurteilsfrei und mit geistiger Flexibilität ins Auge sehen: das ist wohl ein wichtiger Teil des Erbes einer Frau, die Zivilcourage, Mündigkeit und Selbstdenken ins Zentrum ihrer Textproduktion und ihrer unzähligen – stets ohne Dünkel und mit Menschen aller Gesellschaftsschichten geführten – Gespräche gestellt hat. Die Praxis des Lebens hatte für Heller dabei stets Vorrang vor hohlem Szientismus oder der reinen Lehre. „Bis heute“ so Heller, „verachte ich den sogenannten ‚wissenschaftlichen‘ Zugang zur Philosophie, das Eintauchen in reinen und gedankenlosen Professionalismus.“
Die Revolution vergeht, Rotwein besteht
Zweimal war ich in ein Gespräch mit der kleingewachsenen, aber im sozialen Raum sehr präsenten Intellektuellen verwickelt. Das erste Mal bei einer studentischen Sommerakademie des Studienförderungswerks PRO SCIENTIA in Kroatien, wo sie nach einem ebenso inspirierten wie gelassenen Vortrag über betrogene Revolutionen („Eine gescheiterte Revolution kann nicht betrogen werden. Nur gewonnene Revolutionen können uns enttäuschen, verlorene Revolutionen bleiben als großer Mythos bestehen“) mit mir in der Kellerbar des „geistlichen Bildungszentrums“ handfest, Rotwein-trinkend und neugierig weiterdiskutierte. Viele Jahre zuvor war für Heller selbst die Teilnahme an einer solchen „Summer School“ – an der sie, die aufmüpfige Dissidentin, nur teilnehmen durfte, weil sie das ungarische Innenministerium bei der Ausreisegenehmigung ausgetrickst hatte – ein biografischer und intellektueller Game Changer gewesen: Ihr Vortrag über „Wert und Geschichte“ bei der Korčula Summer School 1965 – ebenfalls in Kroatien, damals noch Jugoslawien – wurde nicht nur in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besprochen, sondern stieß ihr als „neue Linke“ die Tür zu einer bisher verschlossenen internationalen Diskurswelt auf. 1977 ließ sie die geistige Repression in Ungarn hinter sich und lehrte als Soziologieprofessorin in Melbourne, 1986 folgte sie offiziell Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York nach. Das Sommerschulerlebnis, dieser mediterrane „great escape“ vom real existierenden Sozialismus, sollte sich jedoch für sie als ein prägender Moment ihres intellektuellen Lebens erweisen.
Die großen Leitlinien, Theoreme und Widersprüche der Philosophin Ágnes Heller und ihre philosophischen Lebensphasen (sie selbst teilt diese in „Lehrjahre“, 1950-1964, „Dialogjahre“, etwa 1965-1980, sowie die intellektuell sehr produktiven „Aufbaujahre und Jahre der Intervention“, 1980-1995 und schließlich die „Wanderjahre“, 1995-2010f.) will ich hier nicht näher skizzieren oder konzeptuell verorten. In diesem Schlaglicht interessiert mich mehr die Verknüpfung zwischen Theorie und Lebenswelt und der Modus, mit dem Heller denkerisch an der Schnittstelle dieser beiden Sphären agierte. Egal ob sie philosophische Portäts schrieb, über biblische Figuren wie Samson nachdachte, geschichtsphilosophische Fragmente zu einem Buch zusammenführte oder in der „Unsterblichen Komödie“ dem Phänomen des Komischen philosophisch auf den Grund ging - Theorie und Alltag waren in ihrer Arbeit stets eng verwoben.
Harte Arbeit am Vorurteil ist jeglichem „Wir“ vorgelagert
Das zweite Mal, als ich mit Ágnes Heller ins Gespräch kam, war noch einprägsamer als die erste Begegnung. Sie trug sich zu, als die noch immer sehr quirlige 90jährige 2018 – inmitten der rechtskonservativen „Ära Kurz“ – im KULTUM Graz im Rahmen der Reihe „FreiSchreiben. Wider die Illiberalität“ zu Gast war und sie beim anschließenden Tischgespräch (ebenfalls in einer Art "Kellerstube") mit den Veranstalterinnen nach dem Verzehr eines halben Wienerschnitzels mit Kürbiskernpanier einer jüngeren Wissenschaftlerin ins Wort fiel, die sich mit dem Appell „We, as radical feminists …“ an Heller wandte: „Tell me“, intervenierte die Philosophin, „who or what is that ‚we‘ that you mention here?“ Heller, die ihrer idealistischen und engagierten Gesprächspartnerin keineswegs negativ eingestellt war, sich allerdings auch nicht für eine „gute“ Sache einkassieren lassen wollte, hat hier radikal liberal letztlich das umgesetzt, was sie in ihrem Buch zur Geschichte ihrer eigenen Philosophie geschrieben hat: Nämlich, „dass man Philosophie nicht in den Dienst einer politischen Sache stellen soll und kann, auch wenn es eine gute und nützliche Sache ist.“ „Fragt man sie“, so Elisabeth von Tadden 2019, „ob sie eine Linke sei, antwortet sie, das hänge vom Land ab. In Ungarn sei sie eine Linke, in Venezuela eine Rechte“.
So hart Heller etwa mit dem rechten Nationalismus eines Viktor Orbán sowie mit linken Ideologien und Utopien ins Gericht ging, dem Konzept der (fehlerhaften) Demokratie und der europäischen Einigung blieb sie bis zum Schluss kämpferisch verbunden. Ihre Arbeit an der freien Gesellschaft höre, so sagte sie etwa 2018 in Graz, nie auf: „Man muss nicht nur sehr gut auf sie aufpassen, man muss an der Demokratie auch arbeiten. Unser Garten ist doch die liberale Demokratie, das müssen wir kultivieren.“ Dass dieser aus vielen verschiedenen „Wir“-Gruppen bestehende demokratische Garten auch harte, ja richtig anstrengende Arbeit im sozialen Feld impliziert, zeigt Hellers paradoxiebejahender und realistischer Umgang mit Vorurteilen. In der Zeitschrift Denken+Glauben der Katholischen Hochschulgemeinde Graz sagte sie: „Wir haben alle Vorurteile. Wir sind in eine Welt geworfen, die voll ist mit Vorurteilen. Auch in der liberalen Demokratie gibt es viele Vorurteile, ethnische Vorurteile, Rassenvorurteile, aber sie sind nicht institutionalisiert – das ist entscheidend.“
Der Bahnhof lacht
Während der Verteidigung meiner Dissertation im Fach Geschichte hat das Prüfungsgremium an einer Stelle leidenschaftlich darüber diskutiert, ob moderne Bahnhöfe kapitalistisch-monofunktionale „Nicht-Orte“ im Sinne von Marc Áuge oder doch kulturell und gesellschaftlich „akzeptable“ Orte („Immerhin gibt es dort internationale Zeitschriften zu kaufen!“ rief etwa einer meiner Professoren), ja vielleicht sogar spannende Foucault’sche „Heterotopien“ sind. Ágnes Heller buchstabierte die Bahnhofsmetapher wortwörtlich aus und konnte dem Gedanken einer durch große Fortschrittsnarrative befeuerten Flucht aus diesem angeblich so mangelhaften „Warteraum“ unserer Existenz wenig abgewinnen: „Wir leben auf dem Bahnhof der Gegenwart“, schreibt sie. „Es gab eine Zeit, da waren die Reisenden überzeugt davon, nur wenige Zeit auf dem Bahnhof der Gegenwart zu verbringen, denn die Eilzüge trafen rasch ein. Reisende der Gegenwart mussten nur einen der Züge besteigen, um mit zunehmender Geschwindigkeit zur Endstation zu fahren, der glänzenden historischen Zukunft. Seither haben wir gelernt, wohin die Züge ideologischer Fantasien fahren, und zwar nicht bloß metaphorisch: zur Endstation, nach Auschwitz und ins Gulag. Die Bewohner der zeitgenössischen postmodernen Welt […] lernen allmählich, dass sie sich auf dem Bahnhof der Gegenwart niederlassen müssen. Hier werden wir geboren, hier müssen wir leben und sterben. Wir können den Bahnhof verbessern, indem wir ihn wohnlicher gestalten, wir können ihn aber auch zur Hölle machen.“
Menschliches Dasein ist für Heller demnach inkongruent, brüchig, kontingent und die Entwicklung des Menschen verläuft für sie nicht per se progressiv; kein utopian social engineering, wie Karl Popper es mit Blick auf Platos Republik-Modell nennt, kann diesen Menschen ethisch gerade biegen. „Hellers Erfahrungen“, so Thomas Meyer in der Süddeutschen Zeitung, „dürften mit dazu beigetragen haben, dass sie ebenso geschichtsphilosophischen wie ethischen Konzepten eine scharfe Absage erteilte, die dem maßlosen Lebewesen namens Mensch Grenzen ziehen wollten.“ „Bleibt also nur, sich mit dem Kapitalismus abzufinden?“ fragt ein studentischer Teilnehmer der Sommerakademie 2013, bei der Heller unter anderem über die gescheiterte Revolution(sromantik) sprach, mit dem Gestus kaum verhohlener moralischer Enttäuschung. Doch Heller, die wie erwähnt danach noch lange an der Theke stand, um mit ihrem jeweiligen studentischen Gegenüber neugierig und leicht linkisch zu diskutieren, hatte keine Antworten, sondern etwas anderes Gepäck: Ein Lachen, das ihre Persönlichkeit mit ihrer Philosophie – unzynisch – verbindet. Es mag seit der Postmoderne nach Derrida kein „transzendentales Signifikat“, keine großen Sinnstiftungen mehr geben, doch den Ambivalenzen, Pluralitäten und Inkongruenzen unseres begrenzten Bahnhofsdaseins kann man neben dem Gespräch mit persönlicher Neugier, Ironie und klugem Witz dagegenhalten. „Jedesmal wenn wir lachen, lachen wir über den Tod“, so Heller.
Florian Traussnig