„Demontagen im Grand Hotel Abgrund“ | Literatur Hotel
Lesung mit Bertram Reinecke und Slata Roschal
Einführung und Gespräch mit Stefan Schmitzer
Die Gedichte von Slata Roschal und Bertram Reinecke unterscheidet einiges, aber es gleichen sich die Texte, aus denen die Œuvres der beiden gebildet sind, darin, dass in beiden die Welt, die sich darbietet, vor allem einmal inakzeptabel erscheint. Wir spüren hier wie dort wiedererkennbar das Hintergrundrauschen oder -wummern, das seinen Ursprung im Abgrund hat, zwischen dem Anspruch ans Humane, der in der Kunst formuliert werden kann, und der profund inhumanen Wirklichkeit, in der die Menschen leben. Konkret: beide Autor:innen operieren mit Fremdmaterial, montieren Elemente der literarischen Tradition und der un-literarischen Lebenswirklichkeiten gerade so zueinander, dass unser Blick dafür aufgeht, wie viel Hoffnung im Sprechen je aufgehoben ist, das heißt auch: suspendiert ist.
Grand Hotel Abgrund war einmal ein Spottwort für den Habitus kritischer Intellektueller, die den am eignen, wohlgeordneten Habitus angesichts der Unordnung draußen, im Wirklichen, nichts ändern und aufgeben wollten. In diesem Sinne sind Roschal und Reinecke vielleicht Arbeiter:innen, auf Montage im Grand Hotel, um die Ruhe zu stören.
Bertram Reineckes Daphne, ich bin wütend (poetenladen, 2024) hat als wichtigstes poetisches Verfahren das Zueinanderorndnen, eben Montieren von Zitaten aus je ganz distinkten, und ihrerseits poetisch bedeutungstragenden Quellen zu Gedichten, die dann allerhand strengen Gattungsvorgaben genügen. Aber der Band bietet auch andere Disziplinen der ausgestellten formstrengen Variationen, etwa mehrere unterschiedliche Übertragungen des selben Gedichts aus dem Englischen ins Deutsche.
Slata Roschals Ich brauche einen Waffenschein / ein neues bitteres Parfüm / ein Haus in dem mich keiner kennt (Das Wunderhorn, 2025) ist dagegen eine Sammlung poetischer Glutkerne von Alltagsstories, die sich auffalten lassen würden, in zumeist ungeschönte Stories von einer brüchigen Welt. Oft ist es dann Zeug aus dem Fundus der deutschen Bildungsfolklore: vom Auszählreim zum Kunstlied, das Resonanz mit den Schrecken hat, die sich andeuten, und das Roschal als seinerseits unhaltbar ausstellt.
Bertram Reinecke,
geboren 1974 in Mecklenburg, lebt in Leipzig. Er verfasste bisher fünf Lyrikbände und zuletzt den Prosaband „Geschlossene Vorgänge“. Sein Band „Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst“ wurde auf die Liste der Gedichtbücher des Jahres 2013 gekürt. Darüber hinaus erschienen Essays, Übersetzungen, Hörkunstarbeiten und Libretti für Werke der zeitgenössischen Musik. Er war mehrfach Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und betreibt den Verlag Reinecke & Voß. Im Februar 2024 erschien im poetenladen Verlag sein Gedichtband „Daphne, ich bin wütend“ (Reihe Neue Lyrik).
Slata Roschal,
geboren 1992 in Sankt Petersburg, promovierte an der LMU München in Slawistik. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern, das Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern; derzeit ist sie Grazer Stadtschreiberin. Bereits erschienen sind ihre Lyrikbände „Wir verzichten auf das gelobte Land“ (Reinecke & Voß, 2019) und „Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus“ (Hochroth Verlag, 2021). „153 Formen des Nichtseins“, ihr Romandebüt, wurde 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. 2024 erscheint der Roman „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“, und 2025 der Gedichtband „Ich brauche einen Waffenschein / ein neues bitteres Parfüm / ein Haus in dem mich keiner kennt“.