Der doppelte Gast: "Leichter Rehfall": Ulrich Koch und Thomas Kunst | Einführung: Barbara Rauchenberger
"LEICHTEN REHFALL" versprach der Abend der Lyrik-Reihe „Der doppelte Gast“ mit Ulrich Koch und Thomas Kunst im KULTUM. Die beiden Lyriker lasen am 8. Oktober bei uns im Cubus. Es war ein poetischer Pas de deux...
Aus der Einführung von Barbara Rauchenberger
Herzlich willkommen – zu einem Lyrikabend in der Reihe „Der doppelte Gast“, die nunmehr zum sechsten Mal stattfindet.
Und ja, dieses „Willkommen!“ hat heute ein zusätzliches SCHWERGEWICHT am Bein, denn WOLLEN UND KOMMEN sind zwei Paar Schuhe, besser, so erscheint es mir derzeit, passen wohl die Paare KÖNNEN und KOMMEN zueinander (denn Wunsch und Wirklichkeit sind zwei linke Schuhe, oder wenn es Ihnen passender erscheint: zwei RECHTE) ...
Ich kann und ich komme, das hörte ich, hörten wir hier in den letzten Tagen gar nicht oft, vielmehr hörten wir: „Ich würde ja gerne, aber…“ oder: „Mein Gott, wie schade, dass ich nicht kommen kann, ich würde es mir ja wünschen“, (so etwa Frau Anna Jung in einer Mail an mich).…
Also noch einmal: Dieses Herzlich-Willkommen wiegt heute besonders schwer! Vor allem Ulrich Koch und Thomas Kunst.
Dass aus dem Leichten Rehfall (und das Wetter spielt mit) kein gröberer Reinfall wird, versuche ich es gleich zu Beginn mit einer Beschwörung (was ja gerade in der Luft liegt, wobei ich auf die VORSILBE VER und die Theorie verzichte und gleich in die Praxis gehe), in dem ich die letzte Zeile meines Programmtextes abwandle und umsage als Beschwörung: „Wer jetzt hier ist, der ist am, ich meine IM Zug!“ (Im Text aus der Programmzeitung heißt es: „Wer jetzt nicht liest, den überfährt die Lok!“).
Einführung von Barbara Rauchenberger, der KURATORIN der Reihe "Der doppelte Gast"
ULRICH KOCH
Autor Ulrich Koch, Foto: KULTUM/A. Hopper
Am und IM Zug zu sein ist nicht mehr weit entfernt vom Auszug. Und die Kehre, die ich jetzt nehme und nehmen muss, um Ihnen Ulrich Koch vorzustellen, ich gebe zu, diese Kehre läuft nach einer kurzen Geraden direkt ins Offene!
Auf der Gerade, in aller Kürze, ist zu sagen: Ulrich Koch wurde 1966 in Winsen/Luhe (Niedersachsen geboren), lebt heute östlich von Lüneburg. Er veröffentlichte seit 1995 zahlreiche Bände mit Gedichten und wurde 2011 mit dem Hugo-Ball-Förderpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen im Verlag JUNG UND JUNG die Gedichtbände „Selbst in hoher Auflösung (2017) und „Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“ (2021). Ein Buch, welches von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats September gewählt wurde.
So viel also zur Geraden, auf der man ja auch etwas beschleunigen kann...
Nun aber rasch zum Offenen: Das Offene, meine ich, führt weiter, bei Ulrich Koch direkt in die schönste Irre.
Und ihm fällt, also ich will das natürlich jetzt nur als These verstanden wissen, das Sprechen schwer. Warum ich das sage? Weil mir das Lesen seiner Gedichte immer so erstaunlich leicht gefallen ist, nicht aber weil sie leicht wären, nein, natürlich nicht, sondern weil das spezifische Gewicht dieser/seiner Sprache gleichwohl begeistert wie es Schmerz auslöst. Weil es scheint, als wäre da nichts mehr, kein Blatt mehr dazwischen (Elke Erb wendet auch noch einmal DIESES BLATT, wenn sie über diese Gedichte sagt: Das ist ein Blatt mit starkem Rückgrat, das schwebt.)
Also jene Begeisterung, die uns ankommen lässt, wie jenen Schmerz, der sich wie Heimweh oder Abschied anfühlt, aber auch der Schmerz um die Schmerzen der anderen, den wir doch auch fühlen, wie auch den unaus-sprechlichen Schmerz. Denn der größte Schmerz ist die Sprache. Als würde ich mir den Mund dabei aufreißen: aber das Wort „Schmerz“ – es kommt nicht von ungefähr – heißt ja so viel wie „aufscheuern“, „aufreiben“, „brennen“, dahinter liegt sowohl das lateinische mordere (das „beißen“ bedeutet), als auch das griechische Wort smerdaleos; was „aufreibend“ bedeutet. Damit ich der Gefahr aus dem Weg gehen, mich noch hier womöglich gleich festzubeißen kann, zitiere ich Ihnen eine Hölderlin-Zeile, um jedes „schräge Licht“ von Herrn Koch abzulenken: „Der echte Schmerz begeistert“, legt bekanntlich Hölderlin Hyperion in den Mund.
Um also die Sprache zu ertragen, müssen wir den Schmerz erneut umreißen. Bei Ulrich Koch klingt das dann so: „Das Schreiben hört nicht auf, es quält mich, endloser Schneefall“. Und was da fällt, sind dicke Flocken. Denn ein Leben ohne Schnee ist möglich, aber das Leben ohne Schnee ist unmöglich. Vielleicht kann ich das SO sagen, um diese Kochschen Gedichte einmal kurz in die Hand zu nehmen, wie man etwa Schnee auffängt, zumindest es als Kind einmal getan hat…
Und wo es schneit, liegt die Frage nach dem Zuhause seltsam nahe und ja, die zwei wunderbaren Gedichtzeilen, die diesem Buch vorangestellt sind (Eichendorff und Novalis) legen die ersten Spuren, bereits dann, wenn auch noch niemand zu lesen begonnen hat, und ich lese Ihnen allerdings nun nur letztere vor, weil ich ja damit auch gleich den zweiten Gast dieses Abends mit ins Boot (heute auf den Schlitten) nehmen kann und diese NOVALIS-Zeile lautet: WO GEHEN WIR DENN HIN? IMMER NACH HAUSE.
Und dann komme ich weiter zu 88 Gedichten, Epilog und alles ist in sieben Kapitel gehalten, die wie Haltestellen aufragen. Und zum Beispiel lauten: DU SCHAUST AUF DEINE HÄNDE WIE AUF TIERSPUREN IM SCHNEE oder: WIE ES AUSSIEHT/KAM ICH ALLEINERZIEHEND AUF DIE WELT, oder: ES WIRD SCHWER SEIN, HIER WIEDER HERAUSZUKOMMEN, SAGT DIE SEELE ZU SICH SELBST
Viele dieser Koch Gedichte wirken zunächst sonderbar, widersprüchlich oder falsch.
Dann ergeben sie plötzlich Sinn. Eine einfache Zeile genügt: Alle Zugvögel sind zurück: Tauben, Ratten, Pferde.
Und es ist, als wende sich das Denken plötzlich an sich selbst und ruft aus: „Wie wahr! Und doch hatte ich mich geirrt darin!“ und das ist das, was ich mit der „schönsten Irre“ meinte, die ich zu Beginn in den Raum stellte und die mich und hoffentlich auch Sie gleichwohl erfasst, diese Gedichte, diese Sprache als Haltestelle, von wo weg man aufbricht (und spurt und man tut das nicht nur einschlägig) und ja, dieser AUSZUG ist kein klassischer EXODUS, als vielmehr eben ein verlässlich melancholischer Bravour-Ritt eines Poeten, der Schneestaub und so weiter …
BITTE!
Thomas Kunst
Um Thomas Kunst vorzustellen, braucht es eine sichere Planke und den festen Willen (wir sind ja hier von allen Seiten von den Minoriten umschlossen), sich erstmal die Schuhe auszuziehen, und zwar allein aus dem Grund, dem zu entkommen, dass es einem die Schuhe von selbst auszieht… Sie hören, ich stehe da jetzt schon etwas barfuß und halte mich fest an dem, was natürlich auch zu einer Vorstellung dazugehört:
Thomas Kunst 1965 in Stralsund geboren, studierte zunächst Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig.
Thomas Kunst, bei der Lesung im KULTUM am 8. Oktober 2021. Foto: KULTUM/J. Rauchenberger
Er schreibt Lyrik und Prosa und befasst sich mit musikalischer Improvisation (Gitarre und Violine). Kunst debütierte 1991 mit Gedichten und einer Erzählung. Seitdem sind mehr als 20 Einzelwerke erschienen (auch Hörbücher bzw. Musik-CDs) sowie zahlreiche Publikationen in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Zahlreich geht es weiter, mit Preisen, darunter der Dresdner Lyrikpreis und der Lyrikpreis Meran. Mit seinem letzten Buch dem Roman „Zandschower Klinken“ erschienen heuer bei Suhrkamp, steht er auf der SHORTLIST zum deutschen Buchpreis. (In 10 Tagen weiß man dann MEHR oder WENIGER….)
Auch wenn Thomas Kunst heute aus seinem 2017 ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienen Gedichtband „Kolonien und Manschettenknöpfe“ lesen wird, bleibe ich bei dem Wort SHORTLIST, weil Liste und List einem ja förmlich ins Ohr springen (etwa so, wie ich es im Programmtext beschrieben habe mit dem Wort „Kolonien, einem Wort dem ich akustisch immer noch gerne aufsitze und es für ein Bauchgebiet halte, dass von fremden Menschen eingenommen wurde …“.)
DENN so jedenfalls habe ich diese Gedichte begriffen, denn sie haben etwas von einem gewitzten Don Quijote, der sein klappriges Pferd, aus dem Gestüt Troja, draußen stehen ließ, um gegen die Windmühlen eines Luna-Parks zu kämpfen. Denn dieser Gedichtband ist (und ich zitiere da nur den Klappentext) ein Streifzug durch einen Luna Park, ein Streifzug, der gewaltig und dabei so unglaublich rhythmisch ausfällt, das auch ganz am BUCHEnde, quasi am Tor nach draußen, also als letzter Gedichteinwurf nach dieser luziden Vergnügungsschlacht (Die LANZEN die hier geworfen werden sind ja eigentlich KRÄNZE, also SONETTENKRÄNZE, PROSAGEDICHTE oder JAMBISCHE ELFZEILER (Und ja: WIR MÜSSEN UNS Don Quijote AUCH ALS VERNÜNFTIGEN MENSCHEN VORSTELLEN) DIESE eine Namensliste zu finden ist, also DIE NAMEN DER LEBEWESEN, DIE ERST NACHTRÄGLICH AUF DIE GÄSTELISTE GEKOMMEN SIND….
Und da steht nach 12 langen Gedankenstrichen und vor drei weiteren langen Strichen an gleichsam 13 Stellen UNSER KLEINER TROMPETER. Eine Arche für Übriggebliebene wird da gefüllt mit AUFFÄLLIG WENIGEN BEGLEITPERSONEN, DARUNTER NUR EINIGE KOMISCHE VÖGEL und ZYPRESSEN MIT WÜRMEN AN DEN FÜSSEN…
Und wer vielleicht nachhören will, was der kleine Trompeter denn spielt (sofern er spielt) findet im Anhang zum Buch die HINTERGRUNDMUSIK, also jene PLATTEN, die für THOMAS KUNST BEIM SCHREIBEN unabdingbar waren.
Ich komme also HIER abermals auf NOVALIS zurück, der schreibt: Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem.
Eine Zeile, auf die ich zugegebenermaßen nicht bei Novalis stieß, sondern bei Inger Christensens monumentalem Werk DAS/DET, denn da liegt sie gleichsam auf der Schulter eines Christensen-Gedichtes im Zyklus DER TEXT, in dem es heißt: Es gibt keinen für den wir nicht etwas tun können obwohl es unmöglich ist. Bei KUNST klingt das dann etwa so: ZU HAUSE SIND WIR DER DEMENZ NÄHER ALS DER UNREGIERBARKEIT. Oder: ICH BIN FÜR DIE WIEDERERKENNUNG VON RUDIMENTEN. Oder: IN ISOLATIONSZELLEN OHNE SCHMETTERLINGE UND ARMBRÜSTE AUSKOMMEN…
Der Leser ist diesem hoch DISIPLINIERTEN RAUSCHZUSTAND völlig ausgeliefert, der immer wieder ansetzt, diese KUNSTARCHE vor sich her zu peitschen, zu wiegen unter anderem in Richtung Pakistan oder gar in den Weltraum, wobei es für diese Gedichte keine Rolle spielt ob real oder surreal.
Denn es geht HIER nicht darum eigene Beobachtung in lyrische Sprache zu fassen. Diesen Dichter interessiert offenbar vielmehr, die verschiedenen Vorstellungswelten, die mit den einzelnen Worten verknüpft sind, auf engstem Raum miteinander reagieren zu lassen. Dann knallt es, dann aber UMARMT es auch großartig! Weil er gewillt ist, die Milchmädchenrechnung zu übernehmen, etwa wenn er schreibt: Die Dunkelheit unserer Sprache vor dem Milcheinschuss.
Denn was da nährt und ausläuft, welche Flasche/welche Brust auch immer da kippt, es ist ein großer abartiger sehnsüchtiger Tanz um eine goldene Flasche!