Der Abend mit Felicitas Hoppe, Thomas Macho und Claudius Tanski am 16. März wurde von mir groß angekündigt – und groß ist er auch geworden: Viele sind gekommen und ich freue mich sehr, diesen Abend allen, die nicht kommen konnten und sich dennoch dafür interessieren (und sich anderthalb Stunden Zeit nehmen wollen), darüber nachzudenken, was Kunst und Zuflucht miteinander zu tun haben könnten, als Film anbieten zu können: Es ist ein Gespräch mit Spontaneinfällen, mit viel Weisheit, mit Verve und viel Esprit. Und es ist gleichzeitig auch ein Konzert mit Stücken von Chopin, Mozart und Bach (auch das darf im KULTUM einmal sein!) So ästhetisch gefasst wurde selten eine Ausstellung auf den Punkt gebracht bzw. mit "lebendigen Kunstwerken" erweitert wie jene von Thomas Henkes CINEMA ALTERA, die gerade auch während der Diagonale 23 zu sehen ist.
Zuflucht, so Felicitas Hoppe, sei ein Ort, den jemand in Not aufsuche, um Schutz oder Hilfe zu bekommen. Es gibt Lieder wie "Du bist meine Zuflucht, du bist meine Hoffnung, du bist meine Stärke, lass mich nicht allein", die allerdings die Frage aufkommen lassen, wer mit dem "DU" eigentlich gemeint sei: Hoppe wandte diese Zeile am Ende ihres Eingangssstatements nicht auf Gott, sondern auf das Publikum an...
Haben wir noch ein Gegenüber?
Die Kunst braucht ein Gegenüber! Das war die erste Feststellung dieses Abends, an dem sich freilich spannende Debatten entwickelten. Doch was, wenn der Kunst ausgerechnet dieses Publikum wegbricht?
Um die Diskussion vorwegzunehmen - Hoppes Schlussatz dieses Abends lautete nämlich: „Wenn man Formen des Gehaltenseins hat, kann das Verschwinden von Dingen auch ganz gut sein... Wenn ich überhaupt kein Publikum habe, muss ich mein wahres Gegenüber ermitteln und erkennen und es könnte sogar sein, dass ich dann besser werde. Vielleicht auch klüger und weiser. Ich sehe dem mit Neugier und Spannung entgegen. Erkenntnisse hat man in der Regel immer dann, wenn man auf der Verliererseite ist. Das ist eine grundsätzliche Erfahrung Erfolg macht einen nicht hellsichtig. Er fühlt sich gut an, aber er macht einen nicht klug.“
Sanctuaries
Zufluchtsorte werden im Angelsächsischen, so Hoppe, als "Sanctuaries" bezeichnet. Dem Wortsinn ist das "Sanctuary" ein "Kultraum, ein Heiligtum, ein Schutzraum, ein Unterschlupf, es ist Asyl und Exil, Refugium, Freistatt und Schongebiet - für Menschen, für Räume und für Vögel". Selbst ein Tierheim könnte ein solches "Sanctuary" sein.
Wäre, so Hoppe in ihrer Eingangsfrage, also nur schützenswert, was uns heilig ist?
Während also das Heiligtum ein Schutzraum der höheren Ordnung ist, erscheinen Schutzraum, Asyl und Exil eher in einem politischen Licht. Das sei freilich nicht jener Schutzraum, den Künstler*innen für ihre Kreativität suchten. Hoppe ist sich übrigens nicht sicher, ob "Gefährdung die Voraussetzung für Kunst" ist... Zu-Flucht bedeute immer, dass eine Bewegung auf ein Ziel hin gehe, auf einen Ort hin, oder auf eine Person. Zuflucht ist für Hoppe positiv konnotiert. Zuflucht habe mit Vertrauen zu tun. Zuflucht sei ein Ort des Austausches, wo ich behandelt werde und wo ich wieder handeln kann. Aber: "Wer Zuflucht sucht, der macht nicht Urlaub! Auch nicht Auszeit oder ein Freisemester. Es ist in der Regel kein Vernügen, sondern es ist sehr existentiell."
Thomas Macho, der coronabedingt via ZOOM zugeschaltet war, replizierte auf Felicitas Hoppe in einem ersten Gesprächsblock und setzte neben viel Zustimmung einen neuen Akzent: "Herr, mach, dass ich nicht die Freude verliere", soll Johann Sebastian Bach nach Ingmar Bergmann in einer Tagebuchnotiz notiert haben, als wieder ein Kind von ihm gestorben war: Die Freude war, so Macho, für Ingmar Bergmann der "Ausdruck des Zuhause-Seins" im eigenen Schaffen, die Bach ausgezeichnet habe.
So setzt Macho in die Diskussion ein. Und erinnert daran, dass genau am 16. März 2023 das Gesamtwerk von Etty Hillesum im C.H.Beck-Verlag ausgeliefert wurde: Hillesum ist bekanntlich das letzte Werk Thomas Henkes in dieser Retrospektive, ("Samstagmittag 12 Uhr") gewidmet. Sie hatte vermutlich kein Publikum. Auch die Briefe an sich selbst von Mark Aurel lesen wir nach 2000 Jahren immer noch. Und er beneidet Felicitas Hoppe um ihre Einsiedelei.
In Gottes Absicht
Macho interessiert aber nicht nur die Frage nach der letzten Zuflucht, sondern auch die Frage nach der ersten Zuflucht: "Wir kommen auf die Welt und wissen gar nicht was das ist: Woher kommen wir eigentlich, wenn wir auf die Welt kommen?" Sigmund Freud habe in einer Abhandlung über die Sexualtheorie daran erinnert, dass das erste große Bewältigungsprojekt von Kindern nicht die Frage nach dem Geschlecht sei, sondern woher die Kinder eigentlich kommen... Mit dieser Frage führte Thomas Macho eine ihm liebe Freundin an, die als damals halbwüchsiges und erst ein wenig aufgeklärtes Mädchen ihrer Mutter eben diese Frage stellte, wo sie denn gewesen sei, bevor sie in den Bauch der Mutter gekommen war, und diese, "aus einer Mischung aus Frömmigkeit und Weisheit" geantwortet habe: "In Gottes Absicht". Worauf sie diesen Ort wochenlang auf der Landkarte suchte... "Auf-die-Welt-Kommen" sei die Erfahrung, wo man das erste Mal so etwas wie "Flucht" und "Zuflucht" machte, es sei jedenfalls eine schockierende Erfahrung.
Kirchenasyl
Zur politischen Dimension in Hoppes Eingangsstatement erinnerte Thomas Macho (dessen Vater nach 1945 übrigens zahlreiche caritative Organisationen gegründet hatte) an das alte Kirchenasyl und an das Gebot der Nächstenliebe: "Mit Nächstenliebe ist wirklich der Nächste gemeint." "Es war einmal eine echte Verpflichtung der Kirchen, den Geflüchteten eine echte Zuflucht zu bieten. Wer uns nahe kommt, wer Zuflucht sucht, dem sei sie zu geben: Dabei sei nicht zu fragen nach dem Geschlecht, Identität und Herkunft": Ein stiller, aber gravitätischer Satz im aktuellen politischen Lärm um Flüchtlingsdebatten.
Gerahmt und akzentuiert wurde dieser außerordentliche Abend im Minoritensaal vom Pianisten und Echo-Klassik-Preisträger Claudius Tanski, der die großen Fragen in ganz andere Welten, die nur die Musik bereit hält, hinein öffnete. Vor dem letzten Stück erläuterte er die "Kunst der Fuge" von Johann Sebastian Bachs letztem Werk. "B-A-C-H" als Komposition ist für Tanski die Visitenkarte für den Eintritt ins Jenseits. Hören Sie hier seine Einführung.
Claudius Tanski spielte folgende Werke (mit dem Link kommen Sie auf das jeweilige Werk):