Befreiung durch Kontrolle? – Kunst und Atemtherapie. Ein Essay
„In front of Rothko’s works, critics intimated, shoulders would loosen, breathing would slow.“
So fasst Sarah K. Rich die häufig festgestellte Wirkung der Kunst des Malers Mark Rothko zusammen. Und dies in einer Zeit, in der Entspannungsprogramme und -strategien in den USA viel beworben wurden, adressiert insbesondere an gestresste Büroangestellte. Dem gleichmäßigen, langsamen Atem wurde dabei eine wesentliche Bedeutung zugeschrieben. Dieser Essay widmet sich kritisch künstlerischen Ansätzen, die tatsächlich eine Einwirkung auf die Atmung von Rezipient*innen vorsehen. In welchem Verhältnis stehen hier Autonomie und Fremdkontrolle, Befreiung und Zwang? Und welche Implikationen hat es, wenn heute anstelle der Malerei immersive, technologisierte Environments zum Einsatz kommen?
Rothko selbst hätte der oben geschilderten Bewertung seiner Werke nicht völlig zugestimmt. Zwar hatte er von der „breathability“ seiner Bilder gesprochen, was zu seinen oft atmosphärischen und in wenigen Farben ausgeführten Malereien durchaus passt. Jedoch bestand sein künstlerisches Konzept häufig darin, jene „Atembarkeit“ des Bildes einzuschränken, und so den Betrachtenden eine Art Atemnot aufzuerlegen. In No. 10 (1950) etwa, so James Breslin, habe Rothko die Anstrengung ins Bild gesetzt, die es bedeutet, sich in einem eingeengten Raum zu bewegen und darin zu atmen.
Tatsächlich entfaltet das großformatige, schmale, opake Bild eine beengende Wirkung. Rothko hatte die geradezu gewaltsame Macht seiner Bilder über die Rezipient:innen immer wieder betont. Dennoch sah er ein therapeutisches Potential darin, das sich allerdings von der eingangs erwähnten ‚Wellness‘ grundlegend unterschied: Er stellte sich vor, dass die Kunstrezeption Leid hervorrufen solle und ein Kraftakt sei, vergleichbar damit, in einem luftarmen Raum zu atmen. Aus dieser Anspannung konnte eine kathartische Wirkung hervorgehen – analog zum Atem, der sich nach einer existentiellen Anstrengung wieder frei und leicht anfühlt. Nach einer solchen Erfahrung sollte man jedoch nicht als effizientere Arbeitskraft ins Büro zurückzukehren, wie es die ‚Entspannungsindustrie‘ wollte. Vielmehr sah Rothko die existentiellen Selbsterfahrungen und -erkenntnisse als einen Selbstzweck.
Auch der Maler und Pädagoge Johannes Itten integrierte – schon in den 1910er Jahren am Weimarer Bauhaus – die Atmung als zentralen Bestandteil der künstlerischen Praxis wie auch der Ausbildung. Turn- und Atemübungen, die sich u.a. an Yoga, der Mazdaznan-Gesundheitslehre und den Harmonisierungsübungen der Bauhausmeisterin Gertrud Grunow orientierten, waren Teil des Unterrichts. In Anlehnung an japanische Traditionen forderte er zudem seine Schüler:innen dazu auf, im Rhythmus des Zeichenprozesses zu atmen. So sollten die „rhythmisch geschriebenen Formen [...] einen Wind, einen Atem in sich“ erhalten und eine lebendige Wirkung entfalten, so heißt es in Ittens Mein Vorkurs am Bauhaus. Gestaltungs- und Formenlehre. Bei ihm kam der Atem somit sowohl in der Vorbereitung der Arbeit wie auch im Schaffen selbst zum Einsatz; er sollte bei der Produktion eines Kunstwerks zu dessen Lebendigkeit und somit dessen therapeutischen Wirkung beitragen.
Rothko und Itten sprachen der Malerei somit eine Macht über die Biorhythmen der Betrachter:innen zu. Bei Itten jedoch ist dies keineswegs an negative Erfahrungen gebunden, vielmehr ging es ihm um eine Übertragung von Vitalität auf das Bild und auf die Betrachtenden. Anders als Rothko verband er dies mit Ideen zu guter Arbeit und Arbeitsfähigkeit: Itten war der Auffassung, dass nur der geistig und körperlich gesunde Mensch gute Kunst hervorbringen und so positiv auf Andere wirken könne. Damit geriet der Schweizer, der Deutschland 1938 verließ – nach der Schließung seiner Schule durch das Nazi-Regime sowie gebrandmarkt als ‚entarteter‘ Künstler –, sehr nah an Ideen der NS-Kulturpolitik, wenngleich er diese in ihrer Konsequenz nicht mittrug. Die Verbindung von Gesundheitsidealen mit dem ‚Wert‘ von Menschen mündete bekanntlich in der Euthanasie und anderen zutiefst menschenfeindlichen Taten.
In der Gegenwartskunst lassen sich – unter ganz anderen Vorzeichen – dennoch Kontinuitäten zu den beschriebenen Heilsideen der künstlerischen Moderne finden. Ein Bindeglied stellt die Optimierung durch Zwang und Kontrolle dar. Das australische Duo Lian Loke und George Khut etwa schafft durch Technologien immersive Situationen, in denen Teilnehmer:innen in Meditation und Entspannung versetzt werden. Die Intensivierung von Körpererfahrung, Kontemplation und Selbsterkenntnis sind Hauptmotive, wie die beiden im Aufsatz „Intimate Aesthetics and Facilitated Interaction“ verdeutlichen. Ihre Arbeit basiert auf sog. Wearables – kleinen vernetzten Computern, die direkt am Körper getragen werden, verbunden mit Körperverbänden und Bekleidungen. Hinzu kommt ein Skript, das die Partizipation an der Kunstinstallation in abgetrennte Phasen teilt, und das die Teilnehmenden zumeist durch mehrere atmosphärische Räume begleitet: Eine Einführung sowie das Ankleiden markieren die erste Phase, so etwa in Speechless (2012), wo zunächst Atem- und Pulssensoren angelegt werden. Weiterhin werden Bänder um den Körper gewickelt – von den Knöcheln bis zu den Schultern; auch die Augen und das ganze Gesicht sind in der ersten Station (Lung Station) durch eine Maske verdeckt. Die Bänder dienen dazu, Druck auf den Körper auszuüben, während die Sensoren den Atem messen: Die Atembewegungen werden zeitversetzt in eine digitale Soundscape übertragen, wodurch die Erfahrung des Atems intensiviert wird. Sehr ähnlich gestaltet sich das Verfahren in der anschließenden Heart Station, in welcher der Puls in einen Klangteppich übertragen wird, während der liegende Körper mit Steinen beschwert ist. Auch in der Spine Station erfahren die Teilnehmenden den Zusammenhang von Atem und Gewicht. Daraufhin erfolgt eine Auswertung in Form eines Gesprächs mit einer Mitarbeiterin, das für spätere Analysen aufgezeichnet wird. Formen der Beschränkung, der Druckausübung, der Einengung sollen hier – vergleichbar mit den Konzepten Rothkos – zu einer veränderten Selbstwahrnehmung, ja zu Achtsamkeit, Befreiung und Heilung führen. Und tatsächlich sind solche Arbeiten gleichermaßen für Krankenhäuser, Gesundheitseinrichtungen, Museen und Kunstgalerien gedacht.
In Speechless wird durch die Kombination von analogen, äußeren Mitteln (Verbände, Masken, Steine etc.) mit technologisch designtem Biofeedback auf Körperfunktionen sowie Empfindungen Einfluss genommen und Verhalten geregelt. Durch die Zeitverschiebung zwischen aktuellem Biorhythmus und Übersetzung in Sound wird etwa auf die Atmung eingewirkt: Das Individuum kann nicht anders, als auf den vorherigen Impuls zu reagieren, da der Sound über den eigentlichen Atemprozess hinaus erklingt und sich in den nächsten Atemstoß einprägt. Dabei ist außerdem zu bedenken, dass körperliche Prozesse hier in Daten übersetzt werden, die maschinell interpretiert und durch Übertragung in ein Klangmedium verfremdet werden. So sind die Partizipierenden selbstverständlich nicht einfach mit einem authentischen Abbild ihres Atems oder ihres Pulses konfrontiert, sondern mit einem spezifisch designten Feedback, in das sie ganz bestimmte, äußerst intime Informationen einspeisen und dem sie sich nicht entziehen können: Das übergeordnete Ziel der Selbsterkenntnis erscheint vor diesem Hintergrund fraglich.
Doch eben dieses Versprechen von einem verbesserten Zugang zum Selbst, verbunden mit Gesundheit, stellt ein Bindeglied zur Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. So setzen sich Aspekte von Kontrolle und Zwang (Rothko) sowie Pathologisierung (Itten) im heutigen Einsatz regulativer Technologien fort – nicht nur in der Kunst. Die Erfahrung ästhetischer Überwältigung, die Rothko seinen Werken zuschrieb, ist in den angeführten zeitgenössischen Werken zu einer Einübung in einen unreflektierten und passiven Umgang mit Technologien geworden: Im Vordergrund steht hier eine von außen manipulierte Selbstreflexion und Selbstbespiegelung – nicht das Be- und Hinterfragen der Funktionsweisen der Apparate. Denn die Sound-Technologien sind immersiv und schaffen Atmosphären, welche den leicht beeinflussbaren Atem ganz in ihren Bann ziehen. Die Rezipientin wird mit einer Patientin gleichgesetzt, die intimste Daten in einen Kreislauf einspeist, ohne Ablauf und Parameter des Experiments verändern zu können – anders als bei Itten, der Atmung als Mittel der kreativen Tätigkeit betrachtete.
Unser Denken, Fühlen und Sein hängt unmittelbar mit unserem Atem zusammen; seine Manipulierbarkeit durch auditive und visuelle Reize stellt somit eine Angriffsfläche dar, insbesondere, wenn dies unter vermeintlich gutgemeinten Prämissen geschieht. Vergleichbare Praktiken außerhalb der Kunstwelt finden sich etwa in Gesundheitsapplikationen, die sich unter dem Label „Quantified Self“ subsummieren lassen. Jene sehen das permanente Tracking und somit auch Einwirken auf unsere Biorhythmen vor. Dieser Zeitgeist der technisierten Optimierung wird von zeitgenössischen Künstler:innen mitunter reproduziert. Kaum hinterfragt wird jedoch, warum zunehmend Technologien zur Anwendung kommen und sogar in der Kunstwelt mitentwickelt werden, die Gesundung durch Einschränkung von individueller Mitbestimmung, Messung und Kontrolle versprechen. Dient diese oft in interdisziplinärer Kooperation und mit finanziellen Mitteln gut ausgestattete Kunst vielleicht der Legitimation dieser Technologien und der damit verbundenen Praktiken im Zeitalter des Überwachungskapitalismus, wie ihn etwa Shoshana Zuboff beschrieben hat?
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass sich Künstler:innen wie Loke und Khut die brasilianische Künstlerin Lygia Clark als wichtige Inspirationsquelle angeben. In den 1960ern hatte Clark ausgesprochen ambivalente, zur Reflexion anregende Arbeiten geschaffen. In Respire comigo hält die Teilnehmerin einen Gummischlauch ans Ohr, der als eine Art externe Lunge fungiert, während die Hände durch Druckbewegungen auf den Schlauch Geräusche produzieren. Atmet sie im Rhythmus der externen Geräusche direkt am Ohr oder entstehen die Geräusche erst im Einklang mit dem eigenen Atem? Die Teilnehmerin kann den Prozess selbst steuern und abwandeln. Der eigene Atem wird dabei veräußerlicht und verfremdet, dringt mit einem anderen Sound ins Innere ein. Der Atemrhythmus wird dabei dennoch in neuer Weise erfahren, externalisiert, ästhetisch modifiziert und – buchstäblich – manipuliert. Clarks Arbeit lädt dazu ein, über das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung, Innen und Außen nachzudenken. Die Ambivalenz des künstlerischen Konzepts steht in Zusammenhang mit dem historischen Kontext der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985). Clarks Partizipationsangebot verhandelt den Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit angesichts der Erfahrung äußerer Repressionen und regt auf Grundlage ästhetischer, experimenteller Erfahrung zu Reflexion und kritischem Denken an. Eben diese kritische Reflexion fehlt in unserem heutigen Zugang zu Technologien – mit der Konsequenz, dass neue Fabrikate großer Technologiefirmen ebenso rasch wie unhinterfragt zu vermeintlich unverzichtbaren Steuerungsinstanzen unseres Alltags werden und so immer neue Bedürfnisse und Zwänge erzeugen.
Linn Burchert
Bemerkung: Dieser Essay basiert auf Forschungsergebnissen der Autorin in: Das Bild als Lebensraum. Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910-1960, Bielefeld: Transcript 2019 und „Inspiration und Exspiration. Atemsteuerung in künstlerischen Praktiken seit 1900“, in: Katja Müller-Helle/Julian Blunk (Hg.), Ästhetische Fremdbestimmung (=Kritische Berichte 3, 2019), S. 44-55.