Atmende Demokratie. Ein Essay
Der vorliegende Aufsatz ist eine Reflexion über eine politische Philosophie der Zukunft – ein Versuch radikalen, elementaren politischen Denkens im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit. Die neue Politik, nach der wir heute suchen, muss ein Rahmen für Gemeinschaft und Zusammenleben jenseits der überhand nehmenden Formen der Gewalt – Machtkampf, Intrige oder gar Krieg – werden. Er ist eine Betrachtung der Aufgabe der politischen Philosophie der Gegenwart – mit dem Ziel, die Menschlichkeit unterschiedlicher Kulturen, Traditionen und Religionen zu entfachen und eine neuartige Allianz der Kreativität und Zugehörigkeit innerhalb der demokratischen Kultur zu schmieden. Wir müssen den Diskurs über Machtkämpfe, Schlachten und Kriege aufgeben und von neuem damit beginnen, über künftige Formen des Zusammenseins nachzudenken, und Wege, wie wir unsere relationale Zugehörigkeit, unsere Ethik der Affektivität, unsere Zugehörigkeit zur Natur und zum Leben, unterstützen und wertschätzen. Dieser Aufsatz befasst sich mit der Möglichkeit einer atmenden Demokratie der Zukunft.
Luft bedingt das Sein
Aber wie verhält sich Demokratie zu Luft und Atem? Als physiologischer Prozess ist Atmen eine wesentliche Grundlage für das Leben eines jeden Lebewesens und hat eine naturwissenschaftliche, kulturelle und soziale Bedeutung. Der gestaltgewordene Atem markiert den Beginn eines neuen Lebens und signalisiert die Heraufkunft eines autonomen und in Freiheit lebenden Wesens in der Welt. Wir alle sind Teil verschiedener atmosphärischer Beziehungen, die ein lebendiges, atmendes Netz bilden, in dem wir während unseres gesamten gestaltgewordenen Lebens miteinander verbundene Gefühle von Zufriedenheit und Unzufriedenheit erleben. Jedes atmende Wesen braucht seinen eigenen Freiraum zum Atmen—eine Hülle oder Atmosphäre, in der es frei ist und nichts und niemandem gehört. Um das lebende, atmende Wesen herum sammelt sich beim Atmen eine Sphäre aus Luft, die sich als elementare Atmosphäre bezeichnen lässt, und das In-der-Luft-sein ist die elementarste Form unseres In-der-Welt-seins. Wir könnten diese Seinsform als ein Leben in der Atmosphäre der atmenden Solidarität mit der Natur und mit anderen als unseren Mitatmenden bezeichnen. Ohne ausreichend Luft ist das Leben seinem wundesten Punkt ausgeliefert – Luft – und erstickt unter den todbringenden Bedingungen seiner Umwelt oder seines soziopolitischen Rahmens. Wir müssen in der Lage sein, uns eine Welt vorzustellen, die durch gemeinsames Atmen besser auf den Ruf des Anderen hört.
Die sanfte Macht des Atems
Nun ist das Aufgreifen der Frage des Atems in der Politik und die Möglichkeit einer neuen Politik des Atems, die einen politischen Wandel andeuten könnte, in letzter Zeit zu einem der drängendsten Themen geworden. Der politische Aktivismus rund um die I can't breathe-Kampagnen im Zusammenhang mit der Black Lives Matter-Bewegung und den Todesfällen von Eric Garner und George Floyd zeigt auf überzeugende Weise die Macht des Atems bei der Vorstellung einer Politik der Zukunft frei von Repression, die sich in Richtung einer gerechteren und solidarischeren atmenden Lebenswelt und Atmosphäre bewegt. Aber schon vor der I can't breathe-Bewegung gab es in Liberia ein Beispiel für die Schaffung einer atmenden Demokratie, und zwar in Gestalt der Frauen der Liberia Mass Action for Peace und Leymah Gbowee als wichtigste Stimme dieser Bewegung. Im Jahr 2011 wurde Leymah Gbowee zusammen mit Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf und Tawakkul Karman für ihren friedlichen Kampf für Gerechtigkeit in Liberia mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. In einem wunderbaren Aufsatz über Krieg und Frieden aus dem Band Breathing with Luce Irigaray (London 2013) mit dem Titel “Breathing the Political: A Meditation on the Preservation of Life in the Midst of War” (Das Politische atmen: Überlegungen zur Bewahrung des Lebens inmitten des Krieges) stellt uns Elisha Foust ein Beispiel für eine Politik im Sinne von Luce Irigaray vor, die auf Atem, Gebet, Sorge um das Leben und Stille beruht und es ermöglicht, eine echte Veränderung in der Gemeinschaft herbeizuführen, die zuvor (radikal!) inmitten eines Krieges gefangen war, mit extremer sexueller Gewalt, Gewalt gegen Kinder und einem inhärenten Religionskonflikt als dessen grundlegende Aspekte.
Eine radikal friedliche Intervention
Aber wie kann Atem Teil der Demokratie werden? Laut Elisha Foust ist Atmen als Gebet ein gemeinschaftliches und somit politisches Ereignis, und kann daher politischen Wandel anregen. Ausgehend von Luce Irigarays Lehre über einen aktiven und bewussten Atem, der sowohl zu einem verstärkten Bewusstsein unserer Einzigartigkeit und Identität als auch zu unserer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft führt, offenbart die politische Dimension des Atems die verborgene, aber machtvolle Präsenz eines Aspekts des Atems unter uns, der in der Philosophietradition des Westens fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Die liberianischen Frauen waren durch ihre radikal friedliche ethische Intervention ins Herz der Genealogie des Krieges, die auf Vergebung und Liebe durch Gebet fußte, in der Lage, der Politik den Atem der Gemeinschaft einzuhauchen. Durch ihre Gebete und ihre Präsenz bei einer Reihe von kommunalen Veranstaltungen gelang es den liberianischen Frauen, ihren Atem sehr politische Weise einzusetzen. Entscheidend für die Bewertung der Rolle des Atems bei einer ethischen Neubegründung der Idee der Demokratie ist vielleicht sein Vermögen, unsere gemeinsame Verletzlichkeit zu offenbaren, die die Gemeinschaft auf stille Weise mit einem Band verbindet, das jeder verstehen kann. Der Atem verbindet den Körper mit der Seele, und er verweist auch auf unseren gemeinsamen und verborgenen ethischen Kern, der sich über alle Individuen, Geschlechter, Kulturen und auch alle Lebewesen erstreckt.
Der Mythos arbeitet unsere Atemreserve heraus
In fast allen Mythologien und Religionen der Welt finden wir einen kosmologischen Mythos oder ein Narrativ, das mit Atemenergie oder Atmen zusammenhängt und uns spirituelle Anleitung und sozusagen die Atemreserve gibt, die wir zunächst brauchen, um uns selbst in unserer Selbstaffektion zu erhalten und zu bewahren, und dann, um in unserem Mitgefühl ihren Anteil für die anderen zu haben. Ob nun in Form von „Wind“, „Luft“, „kosmischem Atem“ oder „Geist“, ist diese Substanz das wesentliche Bindeglied zwischen mikrokosmischen und makrokosmischen Wirklichkeiten, zwischen Immanenz (unserem Körper) und Transzendenz (dem Anderen), das es dem Menschen in seiner Endlichkeit ermöglicht, Zugang zu anderen spirituellen Wesen, zum Kosmos und seinen Göttern zu finden, um schließlich selbst spirituell zu werden und das Unendliche auszudrücken. In ihrem ontologischen Sinn würde Irigaray diese uns zur Verfügung stehende Atemenergie als Atemreserve bezeichnen, die ebendie Schwelle unserer Subjektivität markiert. Die Atemreserve ist das, was die Autonomie unserer Seele garantiert, bevor sie von einem der externen Faktoren vereinnahmt oder ergriffen werden könnte. Letztlich manifestiert sich diese Zurückhaltung in der Erlöserrolle von sowohl Jesus als auch Buddha, die ihren vitalen spirituellen Atem zunächst mit wenigen Frauen und Männern – ihren engsten Atemverbündeten und Freund_innen in der Intimität einer archaischen atmenden Gemeinschaft – und später innerhalb einer neuen Gemeinschaft (ekklesía / sangha) von Atmenden teilten.
Respekt vor dem Atem der Anderen
Die Atemreserve ermöglicht unserer Seele und unserem Körper, die wertvollsten Gaben, die wir haben, zu nähren: die Möglichkeit eines ursprünglichen Raums für den Atem, der für das Entstehen sanfter Gesten der Achtsamkeit, der Meditation, des Gebets, des Zuhörens und der Stille zur Verfügung steht – die Schlüsselelemente, die wir stille Demokratie nennen wollen – ein Zukunftsraum, in dem der Kampf um Anerkennung und die damit verbundenen Modalitäten der Gewalt in ihrem unaufhörlichen ontologischen Antrieb entkräftet werden. Irigaray plädiert für eine neue Kultur der Energie, die nicht mehr aggressiv und kämpferisch ist. Auf der Grundlage der höchsten ethischen Traditionen des Ostens und des Westens besteht die Hauptaufgabe für Irigaray nun darin, den Anderen in seiner Alterität sein zu lassen und ihn ethisch und intersubjektiv in einer Zukunft jenseits von Leid und jenseits der Verletzlichkeit und Ausgesetztheit eines jeden Menschen gegenüber anderen Fleisch werden zu lassen. Ausgehend von diesen Gedanken lässt sich atmende Demokratie nun als Sorge um und Respekt vor dem spirituellen Atem des Anderen, und als Sorge um und Respekt vor dem vitalen Atem – dem Leben – des Anderen verstehen.
Stille, doch entschlossene Demokratie
Lassen Sie uns mit der These einer stillen Demokratie schließen. Dies setzt voraus, dass sich die Demokratie an einer neuen Selbstaffektion entzündet, damit sie zu einer Demokratie wird, die von den Impulsen des Friedens und der Liebe geprägt ist. Indem wir dem politischen Raum ein friedliches Atmen ermöglichen, muss er zu einem Ort für unser Zusammenleben in Gemeinschaft in der Atmosphäre einer tief atmenden und achtsamen Demokratie der Zukunft werden. Der Ruf nach einer neuen Gemeinschaft muss daher neu strukturiert werden, zur Schaffung einer Demokratie, die durch Gebet, Achtsamkeit, Atem, Zuhören und Stille entsteht und vermittelt wird – die Gesten und Elemente der Demokratie, die in der politischen Philosophie allzu oft vernachlässigt werden oder gar gänzlich in Vergessenheit geraten. Diese Demokratie wird es dem Leben auf Erden ermöglichen, die Luft einer neuen elementar-spirituellen Konspiration, eines buchstäblichen „Miteinander-Atmens“, innerhalb einer neuen intersubjektiven, aber auch globalen gemeinschaftlichen Allianz des Lebens unter dem Horizont der Liebe zu atmen und zu teilen. Das ist es, was die Idee der stillen Demokratie als achtsamen und friedlichen zukünftigen Raum der Ruhe, des Durchatmens und der Liebe zueinander ausmacht. Die stille Demokratie ist sanft und geduldig in ihrer Haltung gegenüber den anderen, aber mächtig in ihrem Beharren auf zukünftigen atmenden Welten der Solidarität und der Gerechtigkeit; sie wartet und hört schweigend zu, ist aber auch entschlossener Fürsprecher der Unterdrückten und derjenigen, die von jeglicher Form von Gewalt oder schlechter Luft erstickt werden; und letztendlich nährt unsere stille Demokratie das, was Sloterdijk die gehauchte Kommune nennen würde. Die atmende Demokratie ist die Gemeinschaft der Atmenden.
Lenart Škof