SCHLAGLICHT - Anne Applebaum und die unerwartete "Allianz" gegen die autoritäre Rechte

Wir leben in einer Zeit von überraschenden realignments. Dieser vor allem in der amerikanistischen Politikwissenschaft geläufige Begriff bezeichnet den Wandel von ideologischen Einstellungen einer Person(engruppe), so dass er mit jenen einer weltanschaulich eigentlich anders gepolten Gruppe übereinstimmt. Wenn also die Wählerschaft im einst tiefdemokratischen Arizona in den 1950er Jahren sich plötzlich mehrheitlich der Republikanischen Partei zuwendet oder vice versa nach Jahrzehnten konservativer Vorherrschaft – wie das 2020 der Fall war – bei Präsidentenwahlen mehrheitlich demokratisch votiert, oder wenn Akteure bzw. Gruppen neu zusammenfinden, die sich vorher weltanschaulich nicht nahe waren, dann sortieren sich gesellschaftliche Allianzen neu, dann kommt es zu einem realignment.
Nicht nur Querdenker formieren sich
Heute – die laut dem Soziologen Oliver Nachtwey „erste wirklich postmoderne Bewegung“ der coronaskeptischen „Querdenker“ ist das beste Beispiel dafür – kommt es reihenweise zu realignments: Da marschiert die ökobewegte, esoterische Trommlerin schon mal drei Meter hinter einem harten Rechtsextremen bei der hauptstädtischen Demo mit; da führen faschistoide Apokalyptiker und schwärmerisch-alternative Waldpädagogen im Internet denselben „Abwehrkampf“ gegen die Corona-Schutzmaßnahmen oder den rationalen, wissenschaftlichen Mainstream; da finden linker und rechter Antisemitismus in ihrer Ablehnung der Impfung („Vergiftung“ des gesunden Körpers) in trauter Eintracht zusammen. Doch nicht alle realignments dieser Tage sind so bizarr, so verstörend: dass sich in Europa und den USA konservative Stimmen, denen das – siehe die Trump-Republikaner, siehe Polen, siehe Ungarn, aber auch die österreichische FPÖ – toxische Gebräu aus Rechtspopulismus, Diskurszerstörung, Autoritarismus, Wissenschaftsfeindlichkeit und vulgärem, postfaktischem Konstruktivismus mehr als sauer aufstößt, an die Seite von liberal und sozialdemokratisch agierenden Kräften stellen, um Demokratie und Humanität als zivilisatorische Grundwerte zu verteidigen (und das ungeachtet ideologischer Präferenzen und unterschiedlicher Wege der Erkenntnisfindung); dass in unserem Parlament vier von fünf dort vertretenen Parteien gemeinsam zur Impfung aufrufen; dass mittlerweile auch viele dezidiert linksliberale Personen mit konservativen Kräften übereinstimmen, wenn sie identitätspolitische Verirrungen und dogmatische, „diskursschließende“ Sprechverbote (so Thomas Edlinger beim Grazer Elevate-Festival) kritisieren – ja, all das zeigt, dass rationales realignment in einer Zeit irrationaler und empörungsgetriebener Quer(denk)verbindungen möglich ist.
Applebaum betritt die politische Arena
Anne Applebaum ist so ein Beispiel dafür. Diese in Washington D.C. geborene, mit einem polnischen Politiker und Autor verheiratete Historikerin und Journalistin beschreibt auf den ersten Seiten ihres Buchs Twilight of Democracy, wie sie 1999 in ihrem polnischen Landhaus noch Seite an Seite mit großteils polnischen und großteils konservativen Politikern sowie anderen Gästen den Abend zum Jahreswechsel verbracht hatte: mit deftigem Essen, zünftigem Feuerwerk und ganz viel Zukunftshoffnung. Die Gäste, mit denen Applebaum ideologisch meist auf einer Wellenlänge war, fühlten sich damals noch weitgehend dem zusammenwachsenden Europa, der Demokratie, dem Antikommunismus oder (markt)liberalen „Mitte-Rechts“-Ideen verpflichtet. Nur, der Optimismus dieses Neujahrsfests verflüchtigt sich auf den folgenden Seiten des Buchs rasch: Aus den feiernden Gesinnungsfreunden des letzten Jahrtausends, erzählt Applebaum plastisch, wurden im 21. Jahrhundert teilweise Autokraten, Rechtspopulistinnen und Nativisten, die sich von der klassischen Christdemokratie oder den angestaubten, aber doch irgendwie weltoffenen konservativen Volksparteien weit entfernt haben und in der mittlerweile autoritär das Land regierenden PiS (Prawo i Sprawiedliwość, dt.: „Recht und Gerechtigkeit“) gelandet sind. Ein weiblicher – damals mit einer Pistole das neue Jahrtausend exzentrisch herbeifeuernde – Gast etwa ist laut der in einem jüdischen Haushalt aufgewachsenen Applebaum mittlerweile zum rechten „full time internet troll“ mutiert, der unablässig hasserfüllte Postings und antisemitische Lügen in den digitalen Äther jagt.
Leningrad lehrt Antikommunismus
Rund zwanzig Jahre später hat die Autorin und Wissenschaftlerin mit letzterer Dame und zahlreichen Neujahrsfeierenden von damals politisch gebrochen; schreibt mit Artikel um Artikel, ja ganzen Büchern gegen eben jene enthemmten Nationalisten, die noch mit ihr gemeinsam das Silvesterfeuerwerk bestaunt hatten, an; agitiert mit öffentlichen Auftritten, in Interviews, in persönlichen Gesprächen gegen die autoritäre und rechtspopulistische Gefahr und den „constant drumbeat of hatred“ an; betreibt das nicht nur akademisch, sondern auch aktivistisch angelegte Forschungsprojekt Arena, das gegen demokratiezersetzende Desinformation gerichtet ist; macht sich dabei Feinde; wird Ziel antijüdischer Attacken von ehemaligen Gesinnungsfreunden. Findet aber auch neue – unerwartete – Verbündete; bekommt plötzlich viel Beifall „von links“; wird Teil eines neuen rationalen realignments. Wie kam es dazu? Welche persönlichen Schlüsselereignisse haben die „Fluchtpunkte“ (so der Journalist Thomas Ribi) ihres intellektuellen Handelns bis heute geprägt? Warum ist sie am Ende nicht selbst der autoritären Verlockung erlegen? Warum unterstützte sie eine Demokratin bei einer US-Präsidentschaftswahl anstelle des republikanischen Mitbewerbers?
Werfen wir vielleicht noch einen Blick zurück: Applebaum ist in einem liberal-jüdischen Haushalt in den USA aufgewachsen und hat weißrussische Vorfahren, der Vater arbeitete in einer Rechtsanwaltsfirma, die Mutter in der Corcoran Art Gallery als Programmkoordinatorin. Die junge Anne war also schon früh mit mehreren Identitäten, mit sich vermutlich auch widersprechenden Sichtweisen auf die Welt konfrontiert, die es auszutarieren galt. Bereits als Studentin hat sie Osteuropa und Russland bereist, ab 1988 lebte sie abwechselnd in Polen, in den USA und in Großbritannien. Bei einem Sprachkurs-Aufenthalt in Leningrad 1985, wenige Jahre vor dem Kollaps des Sowjetregimes, verließ sie abends regelmäßig ihr nach eigenen Angaben schäbiges Hotel, um sich mit Einheimischen auszutauschen. Sie traf dabei nicht nur auf Angst, nicht nur auf Armut, nicht nur auf fallweises Misstrauen, sondern auf eine Bevölkerung, die „von Lügen umgeben ist“ und von zynischen Apparatschiks und autoritären clercs auch ihrer intellektuellen Würde beraubt wurde. Jegliche Ambiguität, jegliche Komplexität wurde hier offiziell ausgeblendet. Momente wie diese haben sie tief geprägt. Applebaum räumt in ihren Essays durchaus selbstkritisch ein, dass derartige impressionistische Erfahrungen sie in einem gewissen Sinne „biased“, also voreingenommen gegenüber einem Regime wie dem sowjetischen gemacht haben – so arbeitete sie sich als Historikerin mit Büchern wie Roter Hunger in Folge jahrelang daran ab.
Wenn Demokratiebewegungen antidemokratisch werden
Auch für viele ihrer ehemaligen osteuropäischen Gesinnungsfreunde, für viele ihrer Partygäste von 1999, stiftet dieser strikte Antikommunismus bis heute politische und persönliche Identität. Doch sind die Ablehnung und der eigene Kampf gegen den linken Totalitarismus längst nicht mehr die einzigen Negativfolien der osteuropäischen Nationalisten und Rechtspopulisten. So haben sich mittlerweile – die Euphorie über die Eingliederung von Ländern wie Polen in die Europäische Union ist mittlerweile einer einer emotionalen und identitären Resignation gewichen, das zum Westen züngelnde Licht erloschen (Ivan Krastev) – andere, ebenfalls pessimistisch, defensiv und negativ grundierte Erzählungen zum wohlfeilen Antikommunismus gesellt: Die Nation müsse sich demnach gegen Migration, gegen dunkle (jüdische) Mächte wie George Soros, gegen den relativistischen Westen, gegen Brüssel, gegen Veganer und Radfahrer (so der polnische Polit-Hierarch Jarosław Kaczyński), die ihren Lebensstil anderen Kulturkreisen aufzwingen würden usw. wehren. Die bittere Ironie dieses mit solchen Ideologien und Narrativen angereicherten obsessiven Antikommunismus ist, dass jene ehemaligen Dissidenten, Bürgerrechtlerinnen und Demokratieaktivisten – wie Viktor Orban in Ungarn – mittlerweile ähnliche oder sogar gleich repressive Maßnahmen wie die untergangene Kommunistische Partei (Gängelung von Medien, Universitäten und Justiz, immer forschere Maßnahmen und Repressionen gegen vermeintliche Saboteure und Andersdenkende, Umwandlung von Museen in staatliche Propagandahäuser usw.) praktizieren.
Dieser verstörende phänomenologische „Reim“ motivierte Anne Applebaum dazu, ihre biografisch inspirierte Totalitarismusanalyse auf ihre ehemaligen Weggefährten auszudehnen. Etwa auf die mit ihr früher wissenschaftlich im guten Austausch stehende Mária Schmidt, die sich mittlerweile in einen nicht mehr wirklich dialogfähigen clerc (Julian Benda), also in eine auf westliche Medien und Diplomaten „zornige“ und zunehmend autoritäre Mischung aus hochgebildetem clerk (Verkäufer) und glaubenskriegerischem cleric (Prediger), verwandelt hat und die als Museumsdirektorin und Historikerin kräftig Hand anlegt, um die hart nationalistische Geschichtspolitik der Orban-Regierung voranzutreiben. Bei einem Besuch im von eben jener Frau Schmidt geleiteten Terror-Háza-Museum war ich selbst verblüfft, wie manipulativ an dieser „Gedenkstätte“ der in einer kurzen Zeitspanne mit mörderischer Energie durchgeführte (vom ungarischen Pfeilkreuzler-Kollaborationsregime unterstützte, zur Vernichtung hunderttausender ungarischer Juden führende) nationalsozialistische Zivilisationsbruch mit den ebenfalls verbrecherischen, aber insgesamt – zumindest in Ungarn – nicht so mörderischen Repressionen des Kommunismus aufgerechnet werden. Aus dem ungarischen „reckoning with its Communist past“ folgte nicht, wie von Applebaum erhofft, eine Stabilisierung des Rechtsstaats, folgte keine nachhaltige Demokratisierung. Es folgten vielmehr enttäuschte Erwartungen, das Gefühl, westlichem Kolonialismus ausgesetzt zu sein und ein daraus resultierender autoritär-nativistischer Backlash.
Brüche und Wunden
Die Wege haben sich also getrennt. Während mehr als zwanzig Jahre nach dem rauschenden Neujahrsfest in der polnischen Provinz die spanische Sozialistin Meritxell Batet gemeinsam mit anderen demokratieaffinen Akteuren der rechtsliberalen Anne Applebaum einen Journalismuspreis übergibt und letztere auf facebook als steten Quell der Inspiration lobt, suchen ehemalige Weggefährten Applebaums und rechtspopulistische und nationalkonservative Regierungen mehr und mehr ihr Glück im gemeinsamen Kampf gegen den Pluralismus, in der Weltabgewandheit, im Verschwörungsdenken, in der identitären Verhärtung.
Welche persönlichen oder biografischen Gründe könnte es dafür geben, dass Applebaum nun Teil eines internationalen, rationalen und demokratisch engagierten realignments aus Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten u.a. ist? Nun, die Erklärung dafür in ihrer multikulturell-bildungsbürgerlichen Herkunft oder ihrer religiösen Identität zu suchen, wäre wohl nicht mehr als Küchenpsychologie – es gibt genügend Beispiele dafür, dass Menschen mit ähnlicher Herkunft sich später von der Demokratie abgewandt haben. Ein wesentlicher Grund dürfte aber die mit politischen „Argumenten“ vermischten antisemitischen Anfeindungen gegen ihre Person sein, die sie etwa in Polen erfahren hat und die schon begonnen hatten, als ihr Mann noch klar im rechtskonservativen politischen Lager verortet war und als sie sogar ein Kochbuch veröffentlichte, mit dem sie das internationale Image der polnischen Küche verbessern wollte. So etwas schmerzt, so etwas regt Widerstandskraft, so was greift das Ureigene, das Ich an.
Kunstfreiheit als Demokratie-„Marker“
Doch anstatt in die Falle der Emotionalisierung, der tribalistischen Wut, der identitären Verhärtung zu tappen, greift Applebaum bei ihrer publizistischen Gegenoffensive auf das Handwerk der historischen Totalitarismusanalyse zurück und verwebt diese mit ihrer konkreten Lebenserfahrung: Eine Analyse, die zwar in journalistischer Sprache daherkommt, die etwas elitenzentriert und ja, auch neoliberal ist, die sich nicht immer auf empirische Breite, sondern mehr auf impressionistische Einzelerlebnisse stützt, die aber letztlich jegliches politische Handeln, auch jenes außerhalb der eigenen ideologischen Fixierung, an folgenden Kriterien misst: Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, kulturelle Entfaltungsmöglichkeit. Gerade letzteres ist für Applebaum beileibe kein Randthema: Dass die Geschichtsumdeutungen und Propagandaoffensiven der Regierungen in Polen und Ungarn nicht nur gefährlich, sondern kulturell und intellektuell schlichtweg ebenso peinlich sind wie die Auftragskunstwerke des real existierenden Sozialismus, zeigt Applebaum in ihren Arbeiten vielfach auf: So ist das 1948 offiziell zum Wohle des polnischen Vaterlands bei einem Musikwettbewerb eingereichte und als Sieger auserkorene Machwerk des Komponisten Andrzej Panufnik – dieser habe, so Applebaum, diesen „Müll“ nur eingereicht, um seine Zunft vor etwaigen Benachteiligungen zu bewahren – mit den pathetischen Skulpturen, der plumpen Sprache und den schrillen Videoclips der autoritären Rechtspopulisten dies- und jenseits des Atlantiks durchaus vergleichbar. Applebaum hat ihre persönlichen und analytischen Schlüsse aus derartigen Analogien von linkem Totalitarismus und neurechtem Autoritarismus gezogen und sich auf eine Kooperation, ein rationales realignment mit jenen eingelassen, die sich demokratiefeindlichem Denken jeglicher Couleur widersetzen. Hier wandelt sie durchaus auf den Spuren einer Ágnes Heller, eines Karl Popper.
Das zeigt sich auch bei ihrem Blick auf die heftigen Kulturkämpfe unserer Tage. So sehr Applebaum klaren Widerstand gegen den politisch mächtigen Rechtspopulismus eines Trump oder Orban leistet und dabei „unlikely allies“ auf Seiten der einschlägig engagierten Linken findet, so sehr lehnt sie den – von ihr so empfundenen – kulturell mächtigen identitätspolitischen Moralismus und die mehr oder weniger subtilen Sprech- und Auftrittsverbote link(sakademisch)er Prägung ab: „Nuance and ambiguity are essential to good fiction“, schrieb Applebaum kürzlich in einem Essay über die Hassrede im Internet. Es gelte, Komplexität auszuhalten und jeglicher autoritären Versuchung zu widerstehen. Dieses Zitat lässt sich auch auf sie selbst übertragen: Wie jeder Text sind auch ihre Bücher und pulitzerbepreisten Artikel, ist ihr publizistisches Mitwirken am realignment gegen den neuen Autoritarismus von rechts, ihr persönliches Anschreiben gegen die Feinde der offenen Gesellschaft auch bis zu einem gewissen Grad fiction. Historische Literatur, ja sogar faktennaher Journalismus sind letztlich auch nur eine Art von Literatur und „Wahrheit ist literarisch nicht zu haben“ weiß Bernhard Oberreither. Wer jedoch die eigene Begrenztheit der Erkenntnis zumindest reflektiert und geistigen Raum für Ambiguität, Widerspruch und „Andere“ lässt, wird nicht als hasserfüllter clerc, nicht als Erfüllungsgehilfe des Autoritarismus enden. Warum Anne Applebaum diesen und nicht den anderen Weg gegangen ist, kann hier letztlich nicht ganz beantwortet werden. Wie so oft bilden die Familiengeschichte, soziale Prägungen, persönliche Entscheidungen und äußere – kontingente – Ereignisse ein unauflösbares biografisches Knäuel. Dass ihre Entscheidungen und Handlungen aber nicht nur mithelfen, unsere demokratische Zivilisation zu verteidigen, sondern auch freierer Kunst, besseren Büchern und schnittigeren Melodien das Wort reden, ist mir nicht gänzlich unsympathisch.
Florian Traussnig