"Gnostische Engel" im US-Kapitol?
Die drastischen Bilder des gestürmten US-Kapitols im Jänner haben ein großes analytisches Echo ausgelöst. Inspiriert von der journalistischen Gleichsetzung dieser verschwörungstheoretischen Zeitgenossen mit den antiken Gnostikern („Erkennenden“) gehen wir der uralten und vielzitierten Denkfigur der Gnosis auf den Grund und diskutieren ihre Aktualität und Wirkmächtigkeit.
Wenn es darum geht, die in Zeiten erhöhter Unsicherheit und großer Umbrüche – also Zeiten wie unseren – gehäuft auftretenden Verschwörungstheorien und obskuren Gegenpropheten aller Art zu beschreiben, dann wird oft und gerne der Begriff Gnosis bemüht. Der radikale Pessimismus und die Weltablehnung vieler sich “erkennend” wähnender, gegen die Mainstreamgesellschaft oder das ominöse “System” stellender Menschen und Gruppen bieten sich als (journalistische) Interpretationskategorie hier regelrecht an. Ein verhaltensauffälliger, vergleichsweise vulgärer und geistig verwirrt scheinender politischer Aktivist, der in das US-Kapitol eindringt, wird in so einem Kontext schon mal als “gnostischer Engel” etikettiert und rhetorisch mit jenen in Verbindung gebracht, die exklusiv für sich das Pneuma, den Geist allwissender Göttlichkeit, reklamieren.
Doch was steht hinter diesem vielzitierten, schillernden Begriff? Welche religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Grundlagen gilt es zu berücksichtigen, wenn man von Gnostikerinnen und Gnostikern oder der gnostischen Denkfigur spricht? Nach instruktiven Einführungen der Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl und der Germanistin Alexandra Rassidakis diskutieren die beiden Vortragenden mit dem Romanisten Werner Helmich und Moderator Florian Traussnig über die Frage nach dem “impact” der gnostischen Lehre(n) und der “Provokation der Gnosis” und stellen dabei Bezüge zu zeitgenössischen Literaturen und Diskursen her.