LITERATUR HOTEL: Luljeta Lleshanaku und Andrea Grill: DIE STADT DER ÄPFEL
Es war ein großartiger Lyrik-Abend: EIN Gedicht vorab... Erinnerung an die Kulturrevolution 1968 in Albanien. "Einige Männer in Uniform / stürmten die Kirche mitten in der Nacht. / Die Anrainer sahen ihren Priester / in Unterhosen im Hof vor Kälte zitternd / und fragten einander enttäuscht: /"Der hat uns die Sünden vergeben?" / Vor ihren Augen verbrannten Ikonen, / Ikonen und heilige Bücher. / DIe Zeugen traten noch weiter zurück; / als seien es Liebesbriefe / wollte keiner etwas damit zu tun haben."
Luljeta Lleshanakus Gedichte, gelesen von ihrer Übersetzerin Andrea Grill. Julia Cimafiejeva aus Minsk in Belarus (IHAG-Writer in Exile), deren Bruder und Schwägerin aus politischen Gründen als Musiker (!) im Gefängnis sitzen, hat das Gespräch souverän und mit großer Energie moderiert: Was kann ein Gedicht in Zeiten wie diesen? Eine spannende, berührende, bewegende Diskussion erwartet Sie, großartige Texte.
Herzlich willkommen. Es freut mich Luljeta Lleshanaku, angereist aus Albanien, bzw. der Schweiz, Andrea Grill (aus Wien) und Julia Cimafiejeva (aus Minsk und derzeit als Stipendiatin der Kulturvermittlung Steiermark in Graz lebend) begrüßen zu dürfen, die gemeinsam diesen Abend in der Reihe LITERATUR HOTEL gestalten werden. Der Gedichtband, der heute im Mittelpunkt des Abends steht –„Die Stadt der Äpfel“ – kann durchaus dazu verführen, Äpfel mit Sternen zu vergleichen, denn in der Empfehlung (der Band wurde aufgenommen in die Liste der Lyrikempfehlungen für 2022) heißt es:
„Luljeta Lleshanaku ist eine der wichtigsten Dichterinnen Albaniens, mehrfach ausgezeichnet und übersetzt. Die Stadt der Äpfel dokumentiert ihre vielseitige Produktion der letzten 20 Jahre. In Andrea Grills Übersetzung begegnet uns eine Zeitgenossin von treffsicherer Spröde, schwankend zwischen Souveränität und Verletzlichkeit, präzise, wort- und bildgewandt.“
Die kanadische Dichterin, Essayistin, Übersetzerin und klassische Philologin Anne Carson behauptet: WER SCHREIBT, KANN SAGEN, WAS NAH UND FERN ZUGLEICH IST.
Heute Abend werden sich hier Nähe und Ferne die Waage halten können und, wie ich Anne Carson meine zu verstehen, geht es ja nicht nur um das Räumliche, es geht sehr wohl auch um die Dimension der Zeit. (Denn ohne Raum keine Zeit und ohne Zeit kein Raum). Und das hieße denn auch: WER SCHREIBT, KANN SAGEN, WAS WAR, IST und WIRD ZUGLEICH.
Und in ZEITEN wie DIESEN, in denen (wie Andrea Grill in ihrem wunderbaren Nachwort schreibt) die europäische Zivilgesellschaft an Uneinigkeit im Umgang mit dem Unbekannten zu zerbrechen droht, sind DIESE GEDICHTE, wie Luljeta Lleshanaku sie schreibt, UMSO GEWICHTER; denn es gibt kein UNPOLITISCHES GEDICHT.
Und in ZEITEN wie DIESEN schon überhaupt nicht mehr! (Wohin ein jeder von ihnen im Moment seinen Kopf auch stecken möchte: In die Sterne oder aber in den Sand, und sei es der, der in der Sanduhr rieselt, auch der Sand ist politisch also etwas „was die Stadt betrifft“, wie Luljeta Lleshanakus Äpfel…) Dass es ein Sternbild der Äpfel (Die Hesperiden! In Österreich eine Essigspezialität, also ein Apfelessig!) gibt, wissen wir, aber vielleicht sollten wir auch beginnen uns vorzustellen, dass die reifen Äpfel in den Sand fallen …
(Begrüßungstext von Kuratorin Barbara Rauchenberger