2020 wollte Graz ein besonderes Kulturjahr begehen: Es wollte besonders nach Zukunft, nach Stadtentwicklung, danach, wie wir morgen leben wollen, fragen. Kunst und Kultur wollten deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung einen größeren Aufmerksamkeitsgrad erhalten als an normalen Jahren. Doch dann kam Corona. Und das Kulturjahr wurde "verschoben" bzw. auf 2021 ausgedehnt.
Das KULTUM hatte – nach einer Erschöpfungsphase nach den Jubiläumsausstellungen 2018 – kein Sonderprojekt eingereicht. Dennoch wollte es mit einer Art von "Besinnung" auf die eigentliche Trade-Mark einen unspektakulären Beitrag dazu leisten: Als ein Ort für Flächen zwischen Gegenwartskunst und Religion leistete es in seinem Ausstellungsprogramm dazu einen Beitrag, der sich seinem Alleinstellungsmerkmal verschreibt - nämlich Dimensionen von Religion und Spiritualität in den öffentlichen Kunstdiskursen dazu zulegen: Wir wollten 2020 nach den kleinen und großen „Paradiesen“ fragen – mitten in den Debatten um Klimawandel und apokalyptischen Mediendebatten. Und mitten in der kollektiven Erfahrung des Lockdown von Corona – und so wurden gerade die beiden letzten Ausstellungen zu einem vielfach rezipierten und unerlässlichen Beitrag zur Frage "wie wir leben wollen".
In vier Einzelausstellungen fächerte sich in den Ausstellungsräumen des KULTUMs eine „Jahresausstellung“ zum Gesamtthema auf: Jene Zonen in extremo auszuloten, die man künstlerisch nennen könnte, ist Joseph Marsteurers künstlerisches Lebensthema. Das Kunstwerk ereignet sich für ihn vor allem nicht dort, wo man es zu finden meint, vielmehr im Zwischenraum – jenem Nicht-Ort, der Züge des Utopischen, nicht Betretbaren und Nicht-Fassbaren zeigt: Er zeigte vom 11. Jänner bis 15. Februar 2020 „möglichst schöne, möglichst kunstferne“ Motive (die kleinen Paradiese der Urlaube zum Beispiel), die aber trotz der Genialität des Schöpfers dieser Bilder nach dessen Behauptung KEINE Kunst sind - sondern „Abmalerei“. Marsteurer nimmt seine Betrachter auch mit in eine Vergleichs- und Stundenübung mit dem „Vorbild“ und den Aufzeichnungen seiner Arbeitsleistungen. Er führt damit auch unsere gegenwärtigen Leistungsbemessungen ad absurdum und hält mit diesem Spiegel vielmehr das utopisch Nicht-Betretbare in der ästhetischen Erfahrung frei.
Zu Aschermittwoch begann eine Doppelpräsentation, die Dimensionen des Existenziellen in der Paradiesesvorstellung hervorhob und anschließend in den Kunstaschermittwoch (26. Februar 2020) in die Kirche St. Andrä mündete. „Himmel&Hölle“ nahm auf eine Serie von Iris Christine Aue Bezug, wo die junge Künstlerin in ihrem Graz-Debut fein säuberlich gezeichnetes Unkraut zerschneidet, zusammennäht, vernarbt. In ihren oft sehr körperhaften Zeichnungen geht es um Beziehung, um Verletzung und um die fragile Existenz. Erwin Lacknerstellte dazu im 2. Ausstellungsflügel des KULTUMs in seiner Ausstellung "Kreuzfahrer" den Kontrast von gezeichneten Körpern mit Farbstrichzeichnungen her, die jalousieartig die Sehnsüchte und Schmerzen der so Dargestellten transzendieren (26. Feb. - 4. April 2020). Seine FOODPORN-Serie zeigte eine Reihe, auf Facebook geposteter Mahlzeiten, die in Form aneinandergereihter Ölgemälden in den Bankreihen von Graz St. Andrä installiert wurden: Das Essen als digitales Mitteilungsbedürfnis im Netz wurde zum Widerspruch in sich für ein Fastentuch, das eigentlich Einkehr und Bildabstinenz fordert. Es war ein radikaler Nachdenkprozess für die BesucherInnen dieser Kirche in der liturgischen Vorbereitungszeit auf Ostern.
Und dann kam Corona und eine mehr als zweimonatige behördlich verordnete Schließzeit...
Diese Krise zeigte es deutlich: Es gibt viele KünstlerInnen, die unabhängig von äußerem Erfolg, Besucheransturm oder Zugriffszahlen das einfach tun, was sie tun müssen: Einer, der punktgenau auf die derzeitige Situation eine leuchtende Gegenwelt entwirft, ist der steirische Künstler Alois Neuhold: Wer wagt schon heute, ernsthaft über das Paradies zu reden, das nicht Urlaubs-, Einkaufs-, Senioren- oder Wohlfühlparadiese meint? So entwertet wie dieses Wort in unserer gesättigten Gesellschaft ist, so absurd sehnsuchtsvoll kam es in jenen Wochen der Corona-Krise daher. All diese genannten Paradiese waren plötzlich gesperrt.
Alois Neuhold hat mehrere Jahre lang an den neuen „Blumenbildern“ gearbeitet. Doch nach und nach, so sagt er über seine Arbeit, sei er in die Vorstellung des Paradieses hineingeschlittert...
Unter strengsten Auflagen von „Social Distancing“ baute der Künstler mitten im Corona-Lock-Down und meist völlig allein eine berührend schöne Ausstellung bei den Minoriten auf. Nach und nach wuchs auch eine Gegenwelt zu der aktuellen Isolierungssituation heran. Manchmal ist Kunst so visionär, dass sie die jeweilige Gegenwart einholt und erleuchten kann.
Am ersten möglichen Eröffnungstag, den 15. Mai, wurde die schon lang geplante Paradiesesausstellung dieses Ausstellungsjahres eröffnet, die dem jüngsten malerischen Werk des in der Südsteiermark lebenden Malers Alois Neuhold gewidmet war. "Verstreute Blütenblätter aus dem Gartenbuch eines verlorenen Paradieses“ wurden im KULTUM vom 15. Mai – 10. Oktober 2020 erstmals in einer großen Ausstellung gezeigt. Sie waren ein expliziter Gegenentwurf zum allseits umgreifenden apokalyptischen Denken und Handeln angesichts des Klimawandels. Es enstand dazu ein Text des Künstlers. Auch ein Film ist zu dieser Ausstellung entstanden, der den Künstler in seinem realen und in seinem „Bildergarten“ zeigt, gegen Ende der Ausstellung erschien auch ein umfassendes Katalogbuch.
In der – durch die Covid 19 Pandemie einige Wochen nach hinten verlegten – Herbst-Ausstellung des KULTUM stellte sich das bulgarische Künstlerpaar ninavale (NINA Kovacheva und Valentin Stefanoff) der künstlerischen Suche nach dem Wunsch, wo wir am Ende oder jetzt schon leben wollen: Der Makro- und Mikrokosmos der Paradiese war das Leitmotiv der großen Ausstellungen im KULTUM in diesem Jahr, sozusagen eine Fußnote mit einem Anhang für letzte Fragen zum durch die Corona-Pandemie so in Mitleidenschaft gezogenen Kulturjahr 2020."Paradise is temporarily closed." Lockdown Paradies – wegen einer privaten Party vorübergehend geschlossen (God). Das in Paris lebende, bulgarische Künstlerpaar Nina Kovacheva und Valentin Stefanoff, die unter der Vereinigung „ninavale“ eine neue, gemeinsame künstlerische Identität bilden und in großen Museen Europas (Sofia, Mazedonia, Paris, Lyon) Einzelausstellungen hatte, reagierte in ihrer Ausstellung auch auf die aktuelle Weltsituation der Pandemie. Dass Gott selbst seine Notiz hinterlässt, die Welt außen vor lässt und sich in Partylaune begibt, ist eine sehr zeitgenössisch-sarkastische Reflexion auf die Paradiesverweigerung in Form von Distanzierungsregeln, Kontaktbeschränkung und Abstandsgebot.
Zwar weist das Logo eine offene Tür zum Paradiese auf, doch hat der Chef hier auch aus anderen Gründen eine deutliche Ausnahmeregel gemacht: Er feiert ab und begibt sich mit Auserlesenen in Partygesellschaft. „ENJOY THE SOCIETY!“, „ENJOY THE END!“, „ENJOY THE LONELINESS!“, eine Aufforderung auf Monitoren in der Ausstellung, ist fast so zynisch wie die Haltung der Politiker unseres Landes, die selbst den hungernden Kindern aus Moria die Aufnahme verweigern.