GEHEN und VERGEHEN: Wilhelm Scheruebl

Ausstellungsplan
Eröffnungsansprache
Künstlergespräch mit Wilhelm Scheruebl bei aktuelle kunst in graz, 13.5.
Wer ein zerschlissenes Schuhband in die Ausstellung bringt, erhält ein Kunstwerk, genauer gesagt: ein „Minus-Aquarell“: Abzuholen in der letzten Ausstellungszelle im Südtrakt. Gemalt hat es nicht der Künstler, sondern die Temperatur. Die blaue Farbe ist am Papier so gefroren, dass diese Muster entstanden. Wobei das Wort „Muster“ leicht untertrieben ist: Es sind meist florale Ornamente von vollendeter Schönheit. Wilhelm Scheruebls Kunst ist unter anderem daran wiederzuerkennen: an der Schönheit von „Eisblumen“ – gebannt auf Papier. Jede und jeder erhält nun bei wärmsten Frühlingstemperaturen von diesem „Markenzeichen“ des in den Bergen von Radstadt lebenden Künstlers ein Stück Kunst in der Ausstellung, vorausgesetzt man ist mit den eigenen Schuhen so weit gegangen, dass den Schuhbändern das Zeitliche winkt. Die mitgebrachten Schuhbänder werden im Austauschverfahren zu den kleinen, (am Beginn der Ausstellung insgesamt 144) Minus-Aquarellen, die die Geberinnen und Geber vom Künstler erhalten, auf einem Holzring aufgehängt und formieren sich in der Ausstellung zu stillen Botschaftsträgern von vielfältigen Geschichten von Gegangenem, deren Spuren die Füße gezeichnet haben. Titel der Arbeit „WEGE“.
Gehen ist das aktive Moment, das wir in die Ausstellung mitzubringen haben und vom Gehen erzählen die Werke Wilhelm Scheruebls in dieser Schau. Dabei ist nicht der Innovationswert der Punkt für die Präsentation, sondern die Erzählung der letzten Jahrzehnte, die der 1961 in Radstadt geborene und dort auch ganz lebende Künstler konsequent und kohärent weitergetrieben hat. Im letzten Raum (hinter dem Franziskussaal) rattern Diaprojektoren mit Kleinbilddias, die von einer zweitägigen Wanderung über die Bergkämme des Zauchtales erzählen; die Wegmarkierungen, die nicht rot-weiß-rot, sondern gelb markiert sind, hat der Künstler auf Dias festgehalten. Durch die unterschiedlich groß projizierten Bilder und Zeiteinheiten der einzelnen Projektionen entsteht ein Bild- und Tonablauf, der dem Zufall geschuldet ist. Eine Installation, die in ihrem zufälligen repetitiven Rhythmus an die Minimal Music erinnert. Entstanden war es 2005 für das Projekt „accessing the sublime“ (Zugang zum Erhabenen).
In Zelle drei im Südtrakt ist es mit Sveti Jakob wiederum eine Reiseroute, die aus Stahl geschnitten wurde. Das Objekt, das anlässlich eines Symposiums in einem gleichnamigen kroatischen Ort entstanden ist und dessen Ergebnisse wiederum in einer Ausstellung im Künstlerhaus Wien gezeigt worden sind, ist aus der Linie einer Fahrradtour, die der Künstler von seinem Lebensmittelpunkt Radstadt aus gemacht hat, zu einem skulpturalen Objekt geformt. Die Dokumentation dieser Reise in Form von DIN-A4 Blättern ist an diesem, von der Decke hängenden Linienobjekt nachzuvollziehen.
Gehen und vergehen gilt auch für Samenpflanzen und deren Ort, sich fortzubewegen: In Zelle zwei finden wir die Arbeit „Flugversuch“, ein Objekt mit einem Bündel aus vielen schmalen Stoffsäcken, in denen sich getrocknete Mariendistelköpfe mit ihren Samen befinden. Begleitet wird dieses Objekt von einem Video in Endlosschleife, in dem sich reife Mariendistelköpfe leicht im Wind bewegen, bevor dieser sie in alle Richtungen verstreut. Die Samen in den Fruchtständen/Köpfen wurden in den Säcken aufgefangen und zum Trocknen aufgehängt. (So ist „Flugversuch“ entstanden.) Ursprünglich wollte der Künstler nur Samen für zukünftige Projekte ziehen; doch im Laufe der Arbeit wurde das Auffanglager zur Skulptur.
Die beiden Objekte im Gang des Südflügels gemahnen an ein Haus, das der Künstler gestaltet hat. Seine zahlreichen Stäbe, die die Form zum „Haus“ machen, sind Sonnenblumenstängel: Das sind Relikte seiner Installation „OIKOS“ in Salzburg aus dem Jahr 2022. Die erste Arbeit wird ein Kubus aus den Stäben der Installation „OIKOS“ sein; die zweite, die sich dahinter befindet, eine hängende Hausstruktur sein. Beide haben die getrockneten Stängel der Sonnenblumen der Installation „OIKOS“ aus Salzburg 2022 als Trägersubstanz.
Gehen kann in der Ausstellung auch heißen, „über Wasser zu gehen“. Das erinnert vielleicht ans Meer für den Sommer, mehr noch aber an die Bibel und ihre Erzählungen von Wundern: „Jesus ging über das Wasser“ (Joh 6,15-21). Das nimmt Scheruebl nicht in Anspruch, das Wunder, es zu tun, aber wohl: Im Cubus breitet sich freilich nicht eine Wasseroberfläche, sondern vielmehr eine unberührte Winterlandschaft aus, die der Künstler mit seinen Schiern durchstreift, auf und ab, über Kämme hinweg, gefilmt aus der Höhe. Es ist eine Landschaft von vollendeter Schönheit – eine, die es nicht mehr gibt, und man denkt, wer so etwas filmt, scheint Exklusivrechte zu haben. Man findet sich in einem Wunderland wieder, einem, an das man de facto nicht mehr glauben kann, es allein haben zu können: So weit sind wir gekommen. Das Video hat etwas Exklusives, ein Sehnsuchtstraum nicht nur für alle Schitourengeher bzw. für die Individualistinnen in dieser Kategorie von Sport. Es ist jedenfalls seltsam: Die Schönheit, die Scheruebl zeigt, ist nicht mehr zu genießen, ohne ihr aufgrund des Massentourismus offenkundig devastiertes Gegenteil mitzudenken. Und der Titel, „Über Wasser gehen“ lässt eher an die steigende Schneefallgrenze denken als an die Bibel – das wird jedenfalls kein Wunder sein.
Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Wilhelm Scheruebl bei Bruno Gironcoli diplomiert. Als junger Künstler machte er mit einem von ihm entwickelten Skulpturbegriff auf sich aufmerksam, der (schon damals!) die Pflanzen ins Zentrum von Kunst stellte: Vor allem die Photosynthese war bei Scheruebl ein Gestaltungsprinzip. Des Künstlers Versuchsanordnungen von Sonnenblumen waren gleichermaßen ästhetisch wie auch naturwissenschaftlich artifiziell. Was ihm über Jahrzehnte dabeigeblieben ist: Die Faszination für die Verwandlung. Natur ist im ständigen Verwandeln begriffen. Auf lange Zeit wies seine Biografie einen doppelten Wohnsitz aus: „Lebt in Radstadt und Wien.“ Das Rurale und das Urbane sollten damit dokumentiert werden, wobei Letzteres auch signalisierte, an der jeweiligen Entwicklung von Kunst teilzunehmen oder teilgenommen zu haben: Dass zeitgenössische Kunst sich in der Stadt abspiele, wird Wilhelm Scheruebl im Laufe seines künstlerischen Arbeitens über fast vier Jahrzehnte freilich substanziell entkräftet haben. Ein Weiterschreiben des Begriffes von Skulptur ist bei Scheruebl so zu erzählen, dass das urbane Nachdenken über Kunst durchaus als arm zu bezeichnen wäre, hätte es nicht – neben der Materialerfahrung von Stein und Felsen – von den Spuren (im Schnee), den (Atem spendenden) Aussichten und den Wetterkapriolen des alpinen Hochlandes zu berichten. Die lang geübte Doppelexistenz ist beim Künstler seit einigen Jahren einer expliziten Verwurzelung gewichen: Wer jemals in Scheruebls Atelier hoch oben in den Bergen von Radstadt gewesen ist, wird die so entstandene Kunst anders einzuordnen wissen.
In einer Epoche, wo Natur eigentlich nur mehr als höchst bedroht und katastrophisch wahrgenommen wird, in einer medialen Gegenwart, die (zurecht) vor den Folgen des dramatischen Klimawandels warnt, sind Scheruebls Bilder, Drucke, Videos und Skulpturen wie glänzende Werke aus einer anderen Welt, die uns noch die Augen öffnen wollten für die Schönheit des Kosmos, der Schöpfung und der Welt, in der wir für einen Hauch eines Bruchteils von Zeit Gast gewesen sein werden. Und, ja, die uns eine Erinnerung wachrufen an die scheinbar naiven Sätze der biblischen Erzählung von Schöpfung, nach jedem Tag aus dem Munde des Schöpfers: „Gott sah, dass das Licht gut war“ (Gen 1,4); „Gott sah, dass es [das Land; das Meer] gut war“ (Gen 1,10); „Gott sah, dass es [die Erde mit ihren Samen und Früchten] gut war“ (Gen 1,12d); „Gott sah, dass es [die Lichter am Himmelsgewölbe, die großen und die kleinen] gut war“ (Gen 1,18); „Gott sah, dass es [die lebendigen Wesen im Wasser und in der Luft] gut war“ (Gen 1,21); „Gott sah, dass es [die Lebewesen aller Art, die Kriechtiere und die Wildtiere] gut war“ (Gen 1,21) Und dann, Gen 1,31, nach der Übergabe an die Menschen: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut.“ Gut!
Und genau die Zeitspanne nach dem sechsten Schöpfungstag nennen wir seit ganz kurzer Zeit das Anthropozän. (Damit ist der kurze Prozess der Zerstörung der Schöpfung gemeint.)
Dass die Natur uns anblickt, in ihren Verästelungen des Lebens, den Adern ihrer Lebenskanäle, den Ausformungen ihrer Versorgungsarme, zeigt Wilhelm Scheruebl Zelle für Zelle, Raum für Raum. Der Blick wird am augenfälligsten dort, wo Formen auch mit dem Auge assoziiert werden, wie im Video „IRIS“ am Ende des Südflügels, hinter dem Haus aus Sonnenblumenstengeln. Für eine kurze Zeit denkt man tatsächlich an die Adern im Augapfel, an die Adern im Lebewesen überhaupt, doch diese weisen sich als Bäume von oben in weißer Winterlandschaft aus, die der Künstler mit seinen Schiern durchquert. Abermals ein Blick „von oben“, transzendiert in eine andere oder aus einer anderen Welt. Scheruebl interessieren ähnliche – oder analoge – Ausformungen, die sich in der Natur in lebendigen Systemen herauskristallisiert haben. Mit „lebendig“ sind freilich auch Steine oder Kristalle gemeint.
Seit Jahrzehnten steht der Bildhauer für materialisierte Objekt- und Raumwerdungen. Das Nicht-Statische, das Lebendige ist das zentrale Interesse der künstlerischen Arbeit Wilhelm Scheruebls geworden.
Das kann in der Form eines puren Staunens über die Formkraft der Natur zur Gestalt werden. In seinem jüngsten Studienaufenthalt in Mexiko (2022/23) lässt er unterschiedlichste „Blätter“, die sich ihm während seiner zahlreichen Spaziergänge in Merida mit ihrer überbordenden Vegetation und dem beeindruckenden Formenreichtum dieser vielfältigen Pflanzenwelt anbieten, zu geformten Druckstöcken werden. Das Streiflicht macht die Papierdrucke, nun ausgestellt im Raum 4, besonders haptisch. Nicht der Künstler ist der Holzschneider bzw. Lithograph, es ist die Natur selbst: Was aber Scheruebl mit der Druckerpresse, die ihm die Kunsthochschule in Merida während seines jüngsten Stipendiums auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan zur Verfügung gestellt hat, aus den Originalen macht, ist einerseits klassische Druckgrafik. Ähnlich verfährt er als Bildhauer in der Serie „Betongarten“ (Raum 7): Dabei sind Blätter aus der Natur direkt in Beton abgegossen oder besser: ihre einstmalige Form. Sie erscheinen wie paläontologische Funde. Das Prinzip des Gusses ist auf das vegetative Blatt übertragen – und mit ihm natürlich auch die Form von Kulturkritik, was Wohnen, Terrasse, Garten angehen. Aber nicht nur das. Es sind in diesen wabenförmigen Mustern auch Rosetten zu sehen, solche, die man aus der Kerbschnitzerei kennt und die man in ländlichen Gebieten in alten Häusern auf Tramdecken fand. Diese haben apotropäischen Charakter. Aber sie dienen auch als Glücksbringer für die Höhen und Tiefen, die sich in den Wohnstätten im Laufe von Biografien eben abspielen.
Wilhelm Scheruebl geht als Bildhauer in die Natur und findet dort auch seinen Gestaltungsraum, performativ, suchend, rezipierend. Immer wieder war es in den letzten Jahrzehnten die Sonnenblume, deren materielle Substanz er in die Ausstellung holte, deren Schatten aber vielfach zur Kunst geworden ist. Diese Ausstellung, die, wie fast alle anderen in der letzten Zeit, Teil des „Museumsprojektes“ des KULTUM sind, das heißt, wenn es eine Personale wie diese ist, einer Vertiefung und Verästelung von Werkansätzen, die sich in den letzten 25 Jahren schon einmal ansatzweise gezeigt haben, ist deshalb auch mit Rückblenden versehen: Im intermedialen Projekt „LICHTMESZ“ (2009) des KULTUM war etwa eine derartige Blume zugegen; ihr Schatten – oder besser die Leerstellen ihres Schattens – wurde in den Fenstern als versilberte Fläche appliziert. Nach der Übersiedelung 2010 war es eine der ganz wenigen Kunstwerke der letzten 13 Jahre, die einen fixen Platz im KULTUM beanspruchen dürfen.
In der aktuellen Ausstellung ist es – das Hauptsujet dieser Schau – ein mächtiges Bündel aus fast 200 Königskerzen (vgl. das Cover dieser Programmzeitung); sie hängen mannshoch von der Wand. Sie machen deutlich, dass die stärkste bildhauerische Kraft die Natur selbst hat. Und sie heften ihr gleichzeitig auch die Vorstellung von Vergänglichkeit und Transformation an, etwas, was Scheruebl zeitlebens fasziniert hat und wofür er unterschiedlichste Formfindungen anstellte und auch entdeckte.
Wilhelm Scheruebl pflegt additive und zugleich auch subtraktive Verfahren zur Formfindung klassischer Bildhauerei. Dass er dieses weite Spektrum – auch das klassische – beherrscht, hat er unter anderem auch in zahlreichen Projekten „nützlicher“ Kunst, sozusagen „Kunst-am-Bau-Projekte“ unter Beweis gestellt, u.a. in Fenstergestaltungen für sakrale Räume in Österreich (in St. Johann im Pongau hat er gleich 12 (!) Kirchenfenster gestaltet oder anders gesagt: die gesamte Raumschale des neugotischen Hauptschiffes) und in vielen Gestaltungen sakraler Zonen in Form von Altären, Ambonen, Lichtwänden etc., zuletzt 2020 im Grazer Dom. Dort stellt er nicht nur sein formales Können unter Beweis, sondern lässt auch mit seinen malerischen Qualitäten als Bildhauer aufhorchen: Wie Schneeflocken erscheinen die Einsprengsel im harten, dunklen Stein, als ob er den Himmel des Firmaments zum Bildträger für die kultischen Möbel machte.
Niemals kommt Scheruebl mit einfachem Schlaglicht daher. Und dennoch: Licht ist immer wieder ein durchgehendes Gestaltungsmotiv in seinen Werken. Dort, wo Licht ist, kann Leben wachsen: Das wird Scheruebl in den immer wiederkehrenden Zellmotiven in seinen Arbeiten – selbst in Altären und Ambonen – nicht müde zu gestalten. In der aktuellen Ausstellung im KULTUM sind es die Gläser der Galerientüren, die er zellenartig bemalt: 2007 gestaltete er eine derartige Zellstruktur an den Fenstern des Minoritensaal-Stiegenaufgangs. Nun aber ist der Titel dieser Glasbemalung: „zu wenig – zu viel.“ Die damals in diesem Raum auch entstandenen Lichtzeichnungen – „Vanishing work – Verschwinden durch Licht“ –, die er in Form von „Schatten“ an riesigen Blättern weiß gelassen hatte, während der Rest mit Kugelschreiber bemalt worden war, sind nach fast 15 Jahren noch immer nicht ganz verschwunden, obwohl er damals längst damit gerechnet hatte: Dafür aber ist der Luster, den Erzherzog Johann gestiftet hat, und über Jahrzehnte im Minoritensaal-Stiegenaufgang gehangen war, nicht mehr da! Was so viel heißt wie: Manchmal sind Schatten beständiger als Urbilder.
Einmal kehrt ein derartiges Verfahren, wie Scheruebl es vor 15 Jahren vor Ort angestellt hatte – das Abgebildete im Schattenverfahren weiß zu lassen – in der Ausstellung 2023 wieder: Im Franziskussaal, der ganz dem Thema „Gravitation“ gewidmet ist, hängen drei lebensgroße, mit Bleistift flächig ausgemalte T-Formationen, die jeweils eine weiße Fläche leer lassen, die wiederum einen ausbreitenden (männlichen) Körper zeigen: Sie heben auf je ihre Weise die Schwerkraft auf. Mit der Überwindung des Todes in der Figur Jesu, mit der Geste des Arme-Ausbreitens im Zustand des Glücks, mit einer idealtypischen Darstellung des Menschen an sich. Was sie eint: das Zutrauen zu dem, was im Menschen sein könnte. Und weitergegeben werden könnte.
Sie sind, in Fußnote angemerkt, auch ein biografisches Statement: Es ist der Schatten von sich und von seinen Söhnen. Und es ist ein bewegendes Statement eines Künstlers für ein Thema, das die ersten Spuren seiner ganz frühen Bildhauerkunst trägt: Das Schnitzen eines Kruzifixes. Wofür brauchen Menschen zuallererst, so wage ich nun zu fragen, seit Menschengedenken Bildhauer? Antwort: Um sich die Götter ins Haus zu holen.
Obwohl ich Wilhelm Scheruebl schon lange kenne, wusste ich von diesen ersten Spuren seiner Kunst nicht Bescheid. Erst der Besuch seines neuen Ateliers und die dort angebrachten frühen Kruzifixe des jungen Künstlers im Stiegenaufgang offenbarten sich mir mit dieser Wurzel. Nach vier Jahrzehnten des zeitgenössischen Künstler-Daseins, das derartige Motive üblicherweise außen vorzulassen hat, ist das für diese Ausstellung entstandene „Triptychon“ ein Statement: Am Kreuz heftet sich die Vorstellung einer großen Verletzlichkeit, aber auch einer Aufhebung von Schwerkraft. Denn es bedeutet hier, dass man an den Menschen glauben könnte, dass dieser die Arme öffnen und sein Schatten eigentlich auch als Licht gedacht werden kann, als Leerstelle inmitten einer Vegetation, die in sein Gesicht hineinragen kann, das das Dornengestrüpp des Lebens vielleicht aufruft, aber dennoch nicht zitiert. Es ist ja in Wirklichkeit „Klaras Gummibaum“, jener der Mutter des Künstlers, die vor Jahrzehnten verstorben ist. Er lebt noch immer. Ein Kreuz und Pflanzen – das sind kultisch anmutende Andeutungen.
Derartige „Licht-Schattenbilder“ sind Projektionen im besten Sinne, Bilder von Göttern und Menschen, die Urbilder aufrufen oder auch, meinetwegen, Platons Höhlengleichnis. Ihr Schatten ist das Licht. In ihrer Nähe gibt es zudem noch einmal ein subtiles Spiel mit der Geschichte von religiösen Bildern: Vor dem Franziskussaal hängen großformatige Werke mit dem Titel „Steinbilder – Vera-Icon“, die schon 25 Jahre alt sind. Doch keine Spur eines derartigen „Abdrucks“ eines wahren Gesichts ist hier zu finden. Wohl aber eine, in typischer Scheruebl-Handschrift gestaltete Bilder, die serielle Strukturen aufweisen. Die oben erwähnten additiven und zugleich auch subtraktiven Verfahren zur Formfindung werden hier besonders eindrucksvoll sichtbar: Das strukturierende Prinzip dieser Bilder waren ursprünglich Abfälle von ganz frühen Steinbildhauerarbeiten, die der Künstler nicht entsorgte, sondern gesammelt hatte. Sie waren Formelemente, die Scheruebl, mit viel Leinöl und gelber Farbe versehen, auf die Bildträger angebracht hatte Nach einer ersten Trocknungsphase entnahm er diese Steinelemente wieder – zurück blieb ein Krater. Und manchmal eine Verdichtung von Leinöl und Farbe, die, außen hin getrocknet, auch weiterhin ein Innenleben aufweisen sollte. Manchmal war dieses so stark, dass die Haut aufgebrochen war und die Farbe herausfloss: Die Bilder leben weiter.
Was ist ein Bild? Was ist ein lebendiges Bild? Was ist ein wahres Bild? Assoziative Fragen am Ende! Die Ausstellung „Gehen und Vergehen“ im KULTUM legt keinen vordergründigen Wert auf die Aktualität der Arbeiten und auf das Neue, vielmehr zeigt der Künstler Arbeiten, die sich über die Jahre hinweg behaupten und entwickeln konnten und deren „Qualität über einen längeren Zeitraum hinweg den Blicken standhalten konnten“ (W.S.).
Johannes Rauchenberger
Ausgestellte Werke, aufgeteilt in Räumen
Stiegenaufgang |
1
|
Gang Süd I |
3
|
Zelle 1 |
4
|
Zelle 2 |
5
|
Zelle 3 |
6
|
Zelle 4 |
7
|
Gang Süd I (Fortsetzung) |
9
|
Gang Süd II (zum Franziskussaal) |
12
|
Franziskussaal |
19
|
Hinter dem Franziskussal |
25
|
Gang West Tür |
Tür: 26
|
Gang West I |
27
|
Raum 4 |
29
|
Gang West (Fortsetzung) |
30
|
Raum 7 |
34
|
Raum 8 |
40
|
Cubus |
42
|