Reinhild Gerum: DIE BLUMEN DER ANDEREN. Künstlerische Reflexionen zu Schmerz und Passion
Was nimmt man „bei uns“, also in „unserem Kulturkreis“ als Gast mit, wenn man eingeladen wird? Blumen.
Blumen! Aber was bringt man mit, wenn man sie nicht hat? Vor Jahren schon ging Reinhild Gerum ins bayrische „Auffanglager“ in Zirndorf, um mit den dort lebenden Asylsuchenden, die ja vor allem eines tun: nämlich warten zu müssen, einer „sinnvollen“ Beschäftigung nachzugehen. Sinnvoll? Reinhild Gerum machte also mit diesen Menschen Blumen: „Flowers for Zirndorf“. Sie sind, so nebenbei, auf einem Screen zu sehen: das ist eine Blickumkehr auf die „Bedingungen“, die wir als Gesellschaft an „Asylanten“ zu Recht oder eben auch zu Unrecht stellen.
Die Geschichten, die sie mitgebracht haben, sind in einem Boot versammelt, aufgewölkt mit einem Gewölle aus Draht. Man kann sie lesen. Man muss dazu aufstehen von dem Sofa. Jedenfalls aber sind sie da. Niemand kann sagen, dass man sie nicht hätte lesen können.
Das Sofa und das Boot: Die Münchener Künstlerin Reinhild Gerum hat die Diskrepanz zwischen unserer Wohnzimmerwirklichkeit und der tatsächlichen Not schon lange vor der aktuellen Flüchtlingskrise thematisiert. Wie überhaupt sehr viel davon eingetreten ist, was die Künste in ihren verschiedenen Prägungen in Film, Theater, Bild sozusagen „vorhergesehen“ haben. Die Zeit, sich am Sofa davonzustehlen, scheint vorbei zu sein. Die Passionszeit, wie die nähere Zeit vor Ostern in der liturgischen Zeitrechnung eigentlich heißt, ist die Raum-Relation, in einer Ausstellung dem Schmerz einen Raum zu geben, ihn aber anders zu sehen, als ihn wegzuschieben. Das Werk von Reinhild Gerum zeichnet sich dadurch aus, dass die Künstlerin seit vielen Jahren mit Menschen arbeitet, die verwundet sind – verwundet vor allem in der Seele, im Schicksal, in ihrer Geschichte und Biografie. Gerum schreibt diese Geschichten auf. Notiert sie, gibt ihnen eine Form, dass man sie nicht weglegen kann oder sich von ihnen emotional wegschwemmen lässt. Es sind Geschichten des Geschlagen-Werdens und des Schlagens, der physischen und sexuellen Gewalt.
In den letzten Monaten macht Gerum, die seit 20 Jahren mit Menschen arbeitet, die von Schmerz und Gewalt gezeichnet sind, erneut Blumen. Sie werden zu einer künstlerischen Reflexion zu Schmerz und Passion. Man kann und will bekanntlich nicht jedem Blumen schenken. Man kann sie auch nicht von jedem annehmen. Wenn das Menschen aus dem nächsten Beziehungskreis sind (nur sie können es sein), schmerzt das in der Seele. Wenn es beispielsweise die Mutter, der Vater, die Tochter ist. Gerum stellt hier einige solcher „Blumen" aus, deren Material (Kurzwaren) aus der Hinterlassenschaft ihrer kürzlich verstorbenen Mutter stammen: sie sind spitz, unangenehm, verletzend: Der Schmerz ist, ausgehend von den frohen Gesichtern der Asylanten mit ihren gebastelten Papierblumen für das Gastland, in dieser Ausstellung in das eigene Ich angekommen.
Die aktuellen Blumen Gerums verletzen.
Das eigene Ich, das meint den eigenen Körper – seine Geschichte an Verletzungen und Selbstverletzungen. Das meint die Beleidigungen in der Sprache, die Verletzungen in Form von Gewalt, deren hässlichste Form die sexuelle Gewalt ist. Dort fehlt die Sprache, der Reinhild Gerum eine künstlerische Form gibt. Jene Sprache, die sich derzeit politisch drastisch verändert, kommt auch im Alltag vor. Im bürgerlichen Wohnzimmer mit seinem Perserteppich, unter dem gekehrt wird: „... und dann hat er/sie mich geschlagen." (Zelle 2-4) In der Entartung von „Mon Cheri". In der Diskrepanz zwischen dem weichen Inneren eines/einer Jeden und der oft spitzen Ummantelung. In drei möglichen Alternativen einer aus einer Vergewaltigung eingetreteten Schwangerschaft. (Zelle 3) Seit über 20 Jahren arbeitet Reinhild Gerum mit Geschichten dieser Art. Es sind traumatisch verletzte Menschen, denen sie eine Sprache gibt. Es sind oft GewalttäterInnen, deren Untaten im täglichen Lokalteil der Zeitung zu finden sind. Sie alle aber haben eine Geschichte. Teile davon sind in einigen dieser Werke zu lesen. (Zelle 2)
Kunst, sagt Reinhild Gerum, vermag dem Grausamsten ein Bild, ein Wort zu geben. Das ist die eine Seite. Doch Kunst vermag diesen extremen Bildern auch eine Energie zuzuführen, eine Art von Bannung, Heilung, Trost. Was auch immer. Jedenfalls eine verändernde Kraft. Das ist die andere Seite, die für sie notwendig dazugehört: Besonders erahnbar ist diese in den farbigen „Standortbestimmungen" (Zelle 3) aus Ölpastell, die sie mit dem Cutter bearbeitet - angefangen hat Gerum damit unmittelbar nach dem Anschlag von 9/11. Sie arbeitet an diesen Farbbildern beinah täglich - bis heute. In letzter Zeit haben bloß die Anfertigung dieser Blumen diese Tätigkeit etwas in den Hintergrund gedrängt.
Johannes Rauchenberger