MEMES UND DER IRONIC TURN - Wolfgang Ullrich über die Mem-Kultur auf Social Media: (Video-)Nachlese
Sind augenzwinkernde (teils auch aufwühlende) Social Media Memes über Religion, Politik und Krieg mehr als nur eine kurze Flucht in gewitzte bis wahnwitzige Netzwelten? Sind sie mittlerweile ein gesellschafts- und diskursprägender Faktor? Wie kann die wild wuchernde und irrsinnig kreative Meme-Kultur im Netz mit der christlichen (Bild-)Erzählung und dem akademischen Nachdenken über diverse Turns wie den Iconic Turn verknüpft werden? Läuten die Internetglocken gar einen Ironic Turn ein? Der Kulturwissenschaftler und Medientheoretiker Wolfgang Ullrich hat sich – in der Tat eingeläutet vom Sound der Glocken der Mariahilferkirche – im Rahmen der Reihe SEISMOGRAPHICS diesen Fragen gestellt.
Der digitale Elefant im Raum
„Wenn irgendwo noch massenhaft christliche Symbole zirkulieren, dann auf Social Media – in Form abertausender, großteils ironischer Memes“ – so die durchaus provokante These von Moderator und KULTUM-Diskurskurator Florian Traussnig in seiner Einführung zu Ullrichs Vortrag, der auch eine Art popkulturelles Nachwort zur ebenfalls in unserem Haus abgehaltenen Tagung zum „Iconic Turn in den christlichen Konfessionen“ darstellte. Bei diesem erwähnten wissenschaftlichen Austausch wurde das heute eindeutig starke Angewiesen sein auf „Bildlichkeit, die nicht in Sprache und Vernunft aufgeht“, theologisch und hermeneutisch sehr redlich durchleuchtet, aber der zeitgenössische „Elefant im Raum“ – die postmodern-verspielte Social-Media-Bildwelt – so Traussnig, harre einer näheren Betrachtung im Sinne Wolfgang Ullrichs. In den letzten zwei Jahrzehnten, so zitiert Deutschlandfunk Kultur den führenden Medienwissenschaftler, ist „durch den wachsenden Einfluss der sozialen Medien […] eine unglaubliche Dynamisierung der ganzen Bildwelt entstanden“. Zu Beginn dieser Wende zum Bildlichen hin, so Ullrich, habe man bereits darüber nachgedacht und diesen Paradigmenwechsel „– damals noch ein bisschen akademisch – als Iconic Turn bezeichnet.“ Auf daher, zur ironischen Wende!
Memes und das interaktive Spiel mit den Bildern
Bei seiner ebenso analytischen wie kurzweiligen Einführung in die "Mem-Archäologie" der letzten zehn Jahre arbeitete der freie Publizist in Folge heraus, dass es „noch nie […] so leicht und so preiswert [war], Bilder zu machen“ und „seinen Senf“ medial dazuzugeben; die massive Hinwendung zum Bildlichen sei ein unumkehrbarer Prozess, so Ullrich. Auf seinem Blog ideenfreiheit weist letzterer darauf hin, dass Memes kulturhistorische Vorläufer haben und sich auf „Bilder und Bildmotive, die situativ und überraschend, in wechselseitiger Reaktion aufeinander variiert und je nach Kontext in ihrer Bedeutung verändert wurden,“ stützen. Ob jedoch eine solche „zeitgenössische Spielart eines allegorischen Bildes“ tatsächlich zu einem „Meme“ wird, hängt von der Rezeption und Interaktivität der Netzgemeinde ab: Bedeutung erlangten die Bild-Text-Montagen vor allem dadurch, dass viele Menschen sich damit beschäftigen und durch die spontane und kreative Arbeit am Ausgangsbild ein emotional pull entsteht.
Entlastung durch postmodernen Humor
Durch Memes sei es möglich, sich "mit den Mitteln der Parodie" vom Pathos und "von der Gewalt des 'Ausgangsbilds' ein Stück weit zu befreien“ und damit ein Schmunzeln aufs Gesicht der Userinnen und Rezipienten zu zaubern. Besonders goutierte das Publikum das für Internetverhältnisse schon „klassisch“ zu nennende Beispiel einer spanischen Seniorin, deren „Glaube“ laut Ullrich „größer war als das künstlerische Talent“ und die das „Jesus-Fresko ‚Ecce Homo‘ an der feuchten Wand ihrer Dorfkirche im nordspanischen Borja“ (orf.at) auf handwerklich eigenwillige Art restaurierte. Sei solche Laienkunst gerne Ziel viraler „Sommerspäße“, so könnten die Macherinnen und vielen weiteren Bearbeiter von Internet-Memes aber auch dem als elitär, bildungsbürgerlich und klassistisch empfundenen Kunstmilieu eines auswischen, meinte Ullrich: Etwa indem man sich hochkulturellen Werken in satirischer Form annähert, sie genüsslich parodiert und sich an ihnen regelrecht abarbeitet – daher beschreibe der Begriff Ironic Turn das Meme-Phänomen ziemlich gut, so Ullrich.
Bildersturm und Propagandaschlacht
Doch ginge es bei Memes, so der Vortragende, nicht nur um mehr oder weniger sanften Spott, sondern um eine emotionale Entlastung oder gar das Herbeiführen eines Gefühls von Empowerment. Der sich fern von jeglichem Kulturpessimismus verortende Experte wies darauf hin, dass viele Memes abseits des unbekümmerten und anarchischen digitalen „Volksfests“ auch ikonoklastische Züge aufweisen und zahlreiche Bildmontagen – etwa die Propaganda-Memes zum Ukrainekrieg oder die an verschwörungsgläubiges Geraune anstreifenden Tweets eines Elon Musk – Träger von Ideologien und politischen Polemiken sind.
Emotionaler Wesenskern
In der anschließenden, auch vom Publikum engagiert geführten Diskussion mit Ullrich und Moderator Traussnig meinte der Tutor und studentische "Meme-Lord i.R." der Technischen Universität Graz, Lukas Pucher: „Für meine Generation sind Memes etwas Selbstverständliches“, einer seiner Professoren habe sogar einen Meme-Server aufgebaut. Auf die eigene Meme-Produktion gemünzt ergänzte der Programmierexperte: „Es ist schön, dieses Studium aus einem anderen, humorvollen Blickwinkel zu sehen […] und man auch wächst hinein in die Video-Bearbeitung, bekommt Skills dazu.“ Pucher stimmte mit dem bekannten Medientheoretiker überein, dass die „Logik der sozialen Medien […] darin [besteht], beim anderen etwas auszulösen“ (Ullrich). „Ein gutes Meme hat eine emotionale Komponente“, so Pucher, der anhand eines sich im Herr-der-Ringe-Kanon bedienenden Film-Memes die Ängste und Anspannungen seiner studentischen peers vor einer harten Prüfung in ein kathartisches Lachen umwandeln konnte.
Weltflucht und Weltzugewandtheit durch Memes
Auf eine Grundfrage der Veranstaltung, nämlich, ob die (oft ausufernde) Meme-Produktion und vor allem Rezeption ein Weg zur Flucht aus der oder treibender Faktor in der Gesellschaft ist, antwortete Ullrich differenziert: „Man kann das niedliche Katzenbild im Internet anschauen und vergessen, dass man heute Prüfung hat – das wäre Eskapismus. Andererseits könnte ich genau durch den ‚Meme-Lord‘, [der universitätsbezogene Memes macht,] auf so eine Prüfung hingewiesen werden - das ist dann eine Art [weltzugewandtes] Emotionsmanagement“. Auch Iconic Turn und Ironic Turn gehen für Ullrich letztlich Hand in Hand. Christliche Bildwelten kann man „neu reaktivieren“, wobei evangelikale Gruppen diese Bilder eher ikonisieren, während zeitgenössische Meme-Produzenten sie ironisieren. Das Meme-Phänomen brauche daher sowohl eine universitäre als auch eine popkulturell-ironische Analyse, resümierte Moderator Traussnig, der sich auch beim Kooperationspartner Katholische Hochschulgemeinde für den klugen, bunten und gewitzten Abend im Kleinen Minoritensaal bedankte. Memes, so Dirk von Gehlen, "sind eher fröhliche, offene und menschenfreundliche Kommunikationsmechanismen" - Wolfgang Ullrich und Lukas Pucher haben das im KULTUM eindrucksvoll bestätigt.
Florian Traussnig
Zur Bildergalerie (Fotos von Gerd Neuhold/Sonntagsblatt)