SCHLAGLICHT - Leben wir im Zeitalter des Killerclowns?

9. Oktober 2016. Ich sitze einem Flugzeug von Washington D.C. nach Wien. Der ebenso produktive wie anstrengende Forschungsaufenthalt, der mich nicht nur quer über den amerikanischen Kontinent in nüchterne Archivkojen sowie teils schlecht belichtete und zu stark klimatisierte Leseräume führte, sondern auch zu unzähligen Begegnungen mit spannenden Menschen geführt hat, wirkt noch nach. Ich bade regelrecht in den sozialen, intellektuellen und auch touristischen Erinnerungen der letzten vier Wochen. Größtenteils schöne Erinnerungen sind das. Erinnerungen, die mir dieses laute, große, schöne und verstörend widersprüchliche Land – wieder einmal – eher liebens- als verdammenswert erscheinen lassen. Dem hässlichen, ausländer- und frauenfeindlichen Wahlkampf, den Donald Trump gerade führt, zum Trotz. Überhaupt: Donald Trump! Genau in diesen letzten Tagen und Stunden, die ich in den USA bzw. schon am Rückflug verbringe, ich weiß es nicht mehr so genau, taucht dieses berühmte Video auf, in dem der Präsidentschaftskandidat der Grand Old Party (im Clip noch als Privatier) darüber sinniert, wie leicht man als männliche Berühmtheit Frauen „by the pussy“ berühren kann. Die alleinige Existenz dieses Videos, so denke ich mir in dem Moment, wird ihm politisch das Genick brechen. Was für ein armseliger Clown.
Der freie Westen scheint also gerettet und mein über mehrere Jahre entstandenes – aus heutiger Sicht doch recht naives – reiseimpressionistisches Gedankengemälde, das ich von den Vereinigten Staaten über Jahre gemalt habe – es ist in diesem Moment noch in einem guten Zustand. Zufrieden, müde und etwas überdreht kann ich mich im Flieger nicht so recht entscheiden, ob ich mir einen Mainstream-Streifen am Bildschirm zu Gemüte ziehe oder noch einmal, ein letztes Mal für längere Zeit, US-amerikanischen Tageszeitungen durchlese. Letztendlich tue ich beides, aber keines von beidem mit Nachdruck. Zumindest kann ich noch so viel Konzentration aufbringen und einen Artikel lesen, der von so genannten Killerclowns berichtet. Es häufen sich in den USA derzeit die Sichtungen von als gruselige Horror-Harlekins verkleideten Figuren, die unerwartet auftauchen und Passanten oder gar Menschen vor und in ihren Häusern erschrecken. Clowns wirken ohnehin auf viele Menschen schon unheimlich, jetzt laufen also auch noch böse Clowns herum. Ist mir in den letzten vier Wochen etwas entgangen? Vorerst stufe ich die Nachricht als Randnotiz ein.
Mörderische Krisenikone
Wenige Wochen später will ich mein Handy am liebsten schütteln, es zu Boden werfen, zertreten, als es mir mitten in der Nacht mit jeder neuen Newsfeed-Aktualisierung mitteilen will, dass Trump die Wahl gewonnen hat. Donald Trump. Gewonnen. Donald Trump! In dem ganzen globalen Drama (die Auswirkungen einer US-Präsidentschaftswahl sind ja immer global) dieser Tage und Wochen habe ich die Zeitungsnotiz mit den Killerclowns nahezu vergessen. Doch als der „Klingone“ (Armin Wolf, Twitter) ins Weiße Haus einzieht und dann vier Jahre lang tagein tagaus mit hämischem Grinsen sinnentleerte oder absurde, aber fast immer aggressive oder spalterische Sentenzen in die Welt posaunt und am chaotischen Ende dieser konsequent dilettantischen, konsequent umweltfeindlichen und konsequent hasserfüllten vier Amtsjahre der mittlerweile berühmte, großflächig tätowierte und behörnte Verschwörungstheoretiker, Demokratiefeind und „QAnon-Schamane“ Jake Angeli an der Spitze eines gewalttätigen Mobs in das US-Kapitol einzieht, um dem abgewählten Präsidenten performativ beizustehen, muss ich feststellen: Der politisch zerstörerische und vulgärgnostisch irrlichternde Killerclown – ja, wegen der rhetorischen Brandstifterei von diesen grausamen Trickstern töten sich Menschen, verheizen sich gegenseitig, feuern aufeinander, fahren sich mit Autos über den Haufen – ist zu einer Krisenikone geworden. Eine Ikone, die sich wortwörtlich nimmt. Eine mögliche Herleitung für den Begriff Harlekin ist übrigens das altenglische Herla Cyng, „Heerkönig“, doch laut der Online-Enzyklopädie kommt auch „Höllenkönig“, (h)ellechin(n)o, in Frage. Der König höllischer Heerscharen? The Age of the Killer Clown? (Bei den Hippies blubberte noch das friedliebende „Age of the Aquarius“ herum). Die anarchischen – phänomenologisch schon auch faszinierenden und teils recht einfallsreich verkleideten – Horrorscherzbolde auf den nordamerikanischen Straßen des Jahres 2016, diese Killerclowns „von unten“, die wohl noch nichts wussten von der humorlosen erkenntnistheoretischen Irrlichterei der demonstrierenden und randalierenden Coronaskeptiker und Impfgegnerinnen, die nichts ahnten von den „Proud Boys“ im US-Kapitol und von inbrünstig intonierten – auch so gemeinten – Mordkantaten im öffentlichen Raum, sind mittlerweile längst von halblustigen Politikern wie Trump und – sorry for that – Boris Johnson, sind also schon von den bösen Clowns „von oben“ überholt worden. Und ausgerechnet einer der großen Proto-Harlekins, der aus der Verbannung zurückgekehrte italienische pagliaccio, Bunga-Bunga-Party-Gastgeber, Trash-TV-Magnat, ausgewiesene Experte im Feld des „Jacuzzi-Hedonismus“ (Michael Naumann) und der commedia dell’arte ohne „arte“, Silvio Berlusconi, überzieht seit 2019 den europäischen Parlamentarismus wieder mit seinem plastifizierten Dauergrinsen. Der destruktive Schelm, der Killerclown – eine Signatur unserer Zeit?
Halbwertszeit der Halblustigen
So naheliegend und griffig diese angewandte Harlekinologie rüberkommen und zu unserer Krisenzeit passen mag, so sehr lohnt eine differenzierende, distanzierte und dialektische Betrachtung des Phänomens. Studiert man etwa die politische Aktivität, die Bündnisperformance und das Stimmverhalten des nunmehrigen italienischen Senators Berlusconi, dieses ehemaligen Clowns „von oben“, so sieht man hier kaum mehr Irrationalismen, sondern einen mittlerweile vergleichsweise moderaten Rechtskonservativismus mit wirtschaftsliberaler Schlagseite. Nicht allen sympathisch, chiaro, und weiterhin erratisch, weiterhin von einer enormen Hybris, von dumpfem Anti-Intellektualismus und Populismus flankiert, aber ein irrlichternder Polit-Clown ist der solariumbraune alte Mann, dessen Partei Forza Italia nur mehr als Mehrheitsbeschaffer für die neue Rechte fungiert, längst nicht mehr; auch in Großbritannien ist der sich ach so humorvoll und hemdsärmelig gebende und pseudovolkstümlich polternde Populist Boris Johnson mittlerweile politisch erbleicht und befindet sich im Fade-Out-Modus; und der Trickster Trump himself hält zwar eine ehemals staatstragende Partei in Geiselhaft, ist de facto aber im Moment nicht mehr als ein zorniger Privatier mit einem gewissen diskurs- und demokratiezerstörendem Potential.
Bei den Killerclowns „von unten“ sieht es mit der gesellschaftspolitischen Halbwertszeit gerade nicht viel anders aus: die (aus heutiger Sicht fast putzig wirkenden) Leute erschreckenden Anarcho-Clowns auf der Straße, die keine Volksschulen bombardiert, keine Pferdeentwurmungsmittel als Covid-Medikament verkauft, kein Parlament gestürmt haben, machen kaum mehr Schlagzeilen; die marodierenden, rote Schildkappen und paramilitärisches Tuch tragenden Horrorgestalten des 6. Jänner 2021 in den USA werden laufend und eher humorlos zu langen Gefängnisstrafen verdonnert; die europäischen (auch österreichischen) Corona-Kauze wiederum sind mit der Abschwächung der Pandemie ihrer gnostisch-diabolischen Energiequelle weitgehend verlustig gegangen. Lustig waren sie ohnehin nie.
Einfühlsame Narren und ihre Biersprüche
Und – bleiben wir gleich in Österreich – noch etwas Erstaunliches ist mittlerweile passiert: Wenn der Soziologe Andreas Reckwitz zu Recht beklagt, dass es „inmitten des alten Westens“ auftretende „irritierende Anomalie[n] für den Fortschrittsoptimismus“, also Impfleugner, Rechtsextreme, selbsternannte Systemverweigerinnen oder eine ganze Phalanx an in die Kamera lachenden Wirrköpfen als österreichische Präsidentschaftskandidaten (only male) gibt, dann sollte man erwähnen, dass der Harlekin bzw. der mit ihm typologisch verwandte moderne Clown historisch gesehen schon seit jeher diese dunkle Seite in sich trägt: „[C]lowns have always had a dark side“, sagt etwa David Kiser, der Talentscout des Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus. „After all, these were characters who reflected a funhouse mirror back on society“. Der Harlekin, so der Filmemacher Harald Aue, ist „[e]ine zwiespältige Figur, die Gegensätzliches in sich vereint, unberechenbar und sexuell aufgeladen ist. In der Aufklärung verbannte man diese Figur von den Bühnen und spaltete sie in den Weißclown und den August. Der eine, der Apollonische, hat die Kunst und die Sprache, der andere, der Dionysische, ist wild und unberechenbar. Es sind die zwei Seiten einer Münze.“ Der wilde Clown war also immer schon da. Mal hinter dem braven Weißclown, mal neben ihm und manchmal auch als Schachtelteufel, der weit hervorspringt. Je mehr die wilde Seite der Münze verdrängt wird, umso garstiger drängt sie in Form des Horrors hervor.
Ein derartigen Engführungen nicht anheim gefallener und doppelt gemünzter Harlekin, der närrische „Bierpartei“-Gründer und praktizierende Allgemeinmediziner und Impfarzt Dominik Wlazny aka Marco Pogo, hat bei der oben erwähnten Präsidentschaftswahl in Österreich gerade den dritten Platz errungen. Dem hedonistischen Gepräge seiner bierseligen und tätowierten Kunstfigur zum Trotz, hat er sich in einem an Absurditäten und Untergriffen reichen Wahlkampf für Klimaschutz, Solidarität mit der Ukraine und weitgehend rationale (wenn auch schwammige) Programmatiken ausgesprochen – und als junger, aber sichtlich nicht hasserfüllter Kandidat „von unten“ dem Stabilität garantierenden, aber doch teils korruptionsanfälligen oder in Konventionen erstarrten Establishment eine Portion Anarchie entgegengesetzt. Ob dieser empathische Narr, der sowohl mit kultivierter Sprache als auch mit wildem Biergegröle gut umzugehen vorgibt, die Fähigkeit, den Verantwortungssinn und den Willen hat, sich dauerhaft in den systemischen Gegebenheiten der Politik zurecht zu finden, wird sich weisen, ist aber an dieser Stelle nicht von Belang. Was vielmehr zählt: Der von so vielen Menschen im Westen offensichtlich gehegte Wunsch nach einer anarchisch aufbrechenden Katharsis jenseits tradierter parteipolitischer Formatierungen kann sich auch andere Ventile als narzisstische und soziopathische Scharlatene suchen. Kein clowneskes Zeitalter ist also auszurufen. Und selbst wenn die Harlekine laut werden, dann treten sie mitunter auch als selbstironische, reflektierte und einfühlsame Akteure auf, die sowohl Apollon und Dionysus gerecht zu werden versuchen. Es bleibt daher nur ein Ruf: Prost!
Florian Traussnig