FURCHT & FLUCHT ... VOR DER WELT - Martin Haidinger interpretiert Grimmelshausen neu

Flucht vor dem Mars
„Es eröffnet sich zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt, daß es die letzte sei) ...“ – so lässt Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen seinen im Dreißigjährigen Krieg spielenden und aufgrund des Kriegs in der Ukraine gerade sehr aktuell daherkommenden Schelmenroman Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch beginnen. Die Herrschaft des Kriegsgottes Mars und die Verwerfungen seiner Zeit bringen den Helden dazu, dass er „freiwillig quittirt“. Auch heute glauben viele – passend zur These des Historikers und Zeitdiagnostikers Adam Tooze, der die Welt gerade in einer „Polykrisis“, also einer vielfachen Krise sieht –, dass wir in einer apokalyptischen Ära leben. Die Sorge um das eigene Seelenheil in einer solch fehlerhaften und gefallenen Welt veranlasst Grimmelshausens Protagonisten Simplicius Simplicissimus schließlich dazu, ihr als Eremit zu entfliehen. „O Welt! du unreine Welt“ sagt er am Ende des Buchs. Mit dem Journalisten, Literaturinterpreten und Kabarettisten Martin Haidinger unterzog Moderator Daniel Pachner im Rahmen unserer Diskursreihe NEU GELESEN. NEU ERZÄHLT. NEU GEMISCHT. daher den Roman einer Relecture. Diesmal waren wir in der Katholischen Hochschulgemeinde zu Gast.
Flucht auf den Mars?
Charismatisch, humorvoll und mitunter „höchst handfest“ arbeitete der Leiter des Salzburger Nachtstudios (Ö1) im an Pachners Lesung aus dem Buch anknüpfenden Podiumsgespräch heraus, dass die Escape Story des Simplicissimus keineswegs als simpler Aufruf zur sturen Weltabgewandtheit zu verstehen, sondern auch als eine „guate G’schicht“ zu lesen sei, die alle möglichen menschlichen Irrungen und Wirrungen auf abenteuerliche Weise durchspiele – so war der Romanheld mitunter sogar Opernsänger. Die Weltflucht habe traditionell zwei Ziele, so Haidinger: Solange es auf dem Planeten noch etwas zu entdecken gab, hätten die Menschen ihre eskapistische Fantasie auf exotische Weltgegenden gerichtet. Später seien die Science Fiction und das ferne, noch unerschlossene Weltall als Sehnsuchts- und Weltfluchtfolie hinzugekommen - nicht mehr die Flucht vor dem, sondern auf den Mars, quasi. Doch was ist eigentlich „die Welt“, vor der es angeblich zu fliehen gilt? Diese Welt, so Haidinger, zeichne sich ja nicht nur durch Trubel allein aus. Zudem wolle ein Einsiedler sogar mehr von dieser Welt, als man glauben könnte: „Er ist der, der die Welt durch Perspektivenwechsel noch besser verstehen will.“
Manchmal böse, aber nie zynisch!
Vom Moderator Pachner – wohl auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg – gefragt, ob man angesichts der im Roman beschriebenen „bösen Welt“ hin und wieder ein Wolf sein müsse, meinte Haidinger mit Verweis auf die Grimm’sche Märchenwelt: „Die Hexe in den Backofen zu werfen ist böse, aber ‚richtig‘“. Auf die zeitgenössische Medienlandschaft blickend gab der studierte Historiker zu, dass moderner Journalismus Spannung erzeugen will und daher „potentiell apokalyptische“ Nachrichten gerne aufgreife. Aber: gerade in Krisenzeiten – hier schließt sich der Kreis zum „überaus lustig / und männiglich nützlich zu lesen[den]“ sowie satirisch angelegten Roman von Grimmelshausen und zu „dieser unserer Zeit“ – verfüge der Mensch über ein Mittel, um sich die windschief eingerichtete Welt jenseits des blanken Zynismus ein bisschen zurecht zu biegen: den Humor. „Dort wo es ernst wird, ist er wichtig“, so der Journalist. Und wider dem apokalyptischen und oft moralinsauren Social-Media-Crescendo unserer Tage ergänzte er: „Solange der Mensch ein strebendes Wesen ist, kann die Welt nicht so schlecht sein“.
Florian Traussnig