WIDER DIE PEST UND WIDER DIE VERNUNFT - Eine Nachlese
Gerade jene Häuser, die blind auf den Zauber vertrauten, traf die Pest am Schlimmsten, da sie jegliche Vorsichtsmaßnahmen außer Acht ließen.
(Daniel Pachner über die handwerklichen „Früchte“ der Arbeit eines antiken Lügenpropheten und Proto-Esoterikers)
Katastrophen und Krisenzeiten sind wahrlich nichts Neues – genauso wenig wie die urmenschlichen Verhaltensmuster, die sich in schwierigen Zeiten immer wieder zeigen. Der gefährlichen Mischung von Aberglaube und Skrupellosigkeit in Zeiten einer Krise widmete man sich jüngst im KULTUM in Graz. Bei der Auftaktveranstaltung zur Reihe „Neu gelesen. Neu erzählt. Neu gemischt“, bei der historische Katastrophentexte zum Spiegel der Gegenwart werden, stand eine Schrift im Fokus, die das Spiel mit der Angst in einer Pandemie zum Thema machte und auf die Maschinerie einer antiken „Orakelfabrik“ blicken ließ.
Unter dem Titel „Wider die Pest und wider die Vernunft“ diskutierten FURCHE-Redakteurin Brigitte Quint und Moraltheologe Walter Schaupp über die Analogien zwischen zeitgenössischen Positionen zur Pandemie und den Umgang mit der Antoninischen Pest, die im zweiten Jahrhundert n. Chr. im römischen Reich wütete. Moderiert von Florian Traussnig, stand im Fokus eine Satire des antiken Autors Lukian von Samosata, der sich den von ihm als „Lügenpropheten“ betitelten Alexander von Abonuteichos literarisch vornahm. Dabei ließ jener kaum ein gutes Haar an dem in der heutigen Türkei geborenen Wahrsager, der seinen abergläubischen Zeitgenossen durch gekonnte Inszenierung seine wundersamen, aber letztlich herbeigelogenen Kräfte zur Verfügung stellte. Sein auf Basis religiöser Traditionen und der Orakelsucht seiner Zeit aufgebauter eigener Kult war enorm erfolgreich und ließ den falschen Propheten eines selbstgebastelten Schlangengottes aus Stoff äußerst berühmt werden.
Zaubersprüche in modernem Gewand
Für seine Mitmenschen bedeutete ihr blindes Vertrauen in Orakel nicht nur, dass sich Alexander – modernen Sektenführern erschreckend ähnlich – geradezu alles erlauben und viel Geld für seine göttlichen Dienste verlangen konnte. Angesichts der Antoninischen Pest wurden seine wirkungslosen Orakelsprüche auch zu einer ernsthaften Gefahr. So gehörte zu seinem Repertoire ein Zauberspruch, der – als magisches Mittel über der Haustür angebracht – jedes Haus vor Krankheit schützen sollte. Anstelle des erhofften Schutzes trat jedoch das Gegenteil ein. Gerade jene Häuser, die blind auf den Zauber vertrauten, traf die Pest am schlimmsten, da sie jegliche Vorsichtsmaßnahmen außer Acht ließen. Was als Mittel wider die Pest geglaubt wurde, entbehrte jeglicher vernünftigen Grundlage – und lud sogar dazu ein, andere vernünftige Maßnahmen gegen eine Seuche fahren zu lassen.
Unweigerlich wird man an moderne Wundermittel gegen das Corona-Virus wie ein Pferdeentwurmungsmittel erinnert, die jeglicher medizinischen Basis entbehren. Hingegen erfuhren gerade Maßnahmen, die tatsächlich wirken würden, wie Masken oder Social Distancing, eine Abwertung durch moderne Meinungsmacher – ähnlich wie antike erprobte Strategien. Dass gegen festgefahrene Positionen auch mit den besten Argumenten nicht anzukommen ist, ist nach zwei Jahren Pandemie bekannt. Doch muss man das überhaupt? Für das Mitglied der Bioethikkommission Schaupp ist dann eine Grenze überschritten, wenn durch das eigene Verhalten andere zu Schaden kommen. Bloße Kritik an denen, die in den Sog absurder Verschwörungstheorien gekommen sind, bringe kaum etwas: „Man muss diesen Menschen auch mit Empathie begegnen.“
Der Moraltheologe plädierte für ein Ernstnehmen der Gefühle hinter solchen Positionen. So war der Tenor von einem Votum für ein Aufrechterhalten des Dialogs geprägt, was sich in der Bewertung der Textsorte der Satire widerspiegelte. Mit ihr würde aufgrund ihres herabwürdigenden Charakters kaum eine ernst gemeinte Kommunikation zustande kommen, die die Menschen von ihren Meinungen abbringen könne.
Mit Vernunft und Gefühl
Während Lukians Satire, die mit einem Plädoyer für den Vernunftgebrauch endet, in einem religiös geprägtem und geradezu wundersüchtigen Umfeld eine Randerscheinung war, betonte Quint, dass das Programm der Aufklärung im Vergleich zu damals vielleicht doch Wirkung gezeigt habe. Jene, die blindes Vertrauen in Welterklärer wie den Scharlatan Alexander stecken und ihren eigenen Verstand nicht ohne die Leitung eines anderen bedienen wollen, seien heute eher in der Minderheit.
Gerade die Erfahrung der Corona-Zeit lehrt jedoch auch, dass, wie Lukian schreibt, Furcht und Hoffnung jene „großen Tyrannen“ sein können, die das Leben bestimmen; und dass die eigenen Gefühle mit dem rein vernünftigen Umgang in Konflikt kommen können, wie es für manche bei der Entscheidung der katholischen Kirche der Fall war, alle Weihwasserbehälter an den Eingängen der Kirchen aus Gesundheitsgründen restlos zu leeren. Einen Einklang von Bedürfnissen und Vernunft, um gute Lösungen zu finden, brauche es hier. Dazu gehört auch, sich kritisch mit Maßnahmen auseinanderzusetzen, die oft allzu hastig beschlossen wurden. In diesem Sinne könne die hinterfragende „Liebe zur Wahrheit“ auch in der noch gegenwärtigen Pandemie ein Leitfaden sein.
Daniel Pachner
(Chefredakteur der Zeitschrift Denken+Glauben und Referent für Bildung & Kultur der KHG Graz)