DAS „NICE TO HAVE“ IST NICHT NUR NICE. Bemerkungen zu einer Krisendebatte

Gerade jene Grenzbereiche kirchlichen Lebens, die aus der pfarrlich-klerikalen Perspektive der letzten Jahrhunderte als „Außenbereiche“ definiert wurden, sollten in der aktuellen Kirchenkrise nicht als „nice to have“-Strukturen angesehen werden. Als „systemferne“ Einrichtungen liegen diese Bereiche vielmehr an der Bruchstelle zur Gesellschaft, an der Pflänzchen neuen christlichen Lebens entstehen können.
Andreas G. Weiß in der FURCHE
Grenzen sind nie ganz hermetisch und vollverriegelt, Grenzen sind – nicht nur für Schmuggler und subversive Gestalten aller Art – vielmehr eine Zone des Aufeinandertreffens, des Austauschs, des energiegeladenen Handelns (das amerikanische Englisch hat zusätzlich zur starren border, also Grenze im engeren Sinn, etwa das Konzept der sozial durchlässigen frontier anzubieten). Eine Grenze ist in vielerlei Hinsicht nicht unüberwindbar, sondern stellt auch eine „Bruchstelle“ (A. Weiß) dar. Sie ist wie eine Membran durchdringbar und durchlässig. Letztere ist – das hat ein nunmehriger Bischof, der auch in unserer Diözese im besten Sinne „gewirbelt“ hat, mit Blick auf die das kirchliche Innen mit dem gesellschaftlichen Außen verbindenden Fenster der Grazer „Kunstkirche“ St. Andrä einmal klug festgehalten – eine durchlässige Struktur. Membranen und Grenzbereiche trennen und sortieren also die Welt für uns. Trotzdem können Austausch, Interaktion und Nachschub, können Ideen, Moleküle und auch der eine oder andere Lichtstrahl durch sie durchfließen. Dort wo das Innere das Äußere trifft, da entsteht gerne das, was wir als flow bezeichnen. Es fließt, es knistert, es vibriert.
Außerhalb des Kerngeschäfts
Als ein im nicht unbedingt zum „Kerngeschäft“ zählenden Grenzbereich zwischen Kirche und zunehmend kirchenfernerer Gesellschaft Wirkender – ich bin Kurator für Diskurs, Bildungsreferent und Zeitschriftenredakteur in zwei schon ziemlich progressiven katholischen Häusern – hat mich der Beitrag des eingangs zitierten Theologen zu weiteren Überlegungen motiviert. In seinem nicht nur scharfsichtigen und für Kirchenfunktionäre und pfarrlich Engagierte sicherlich nicht angenehm zu lesenden Text skizziert Andreas G. Weiß nicht nur die bereits bekannten (und mittlerweile erschöpfend behandelten) strukturellen, systemischen und personellen Probleme österreichischer Diözesen. Nein, er geht noch einen Schritt weiter und weist analytisch-kreativ auch auf das Paradoxon hin, dass trotz des vielfach wegbrechenden seelsorglichen Kerngeschäfts und trotz der zunehmenden Distanz zwischen der „pfarrlich-klerikalen“ Sphäre und der Mainstream-Gesellschaft gerade die spannenden Felder kirchlich-katholischen Handelns nun beschnitten oder als „nice to have“-Bereiche gar eingespart werden. Also genau jene Kraftfelder an der Grenze, die mit eben dieser Mehrheitsgesellschaft in einem durchaus regen, kritischen und vitalen Austausch stehen. Nennen wir sie ruhig beim Namen: Diese vermeintlichen „nice to have’s“ sind: Gesellschaftspolitik, Kultur, Kunst, Bildung & Diskurs und einige weitere (die genauso bedeutend sind, über die ich aber nicht praxisnah sprechen kann).
Hoffnungsvolle Handlungsfelder
Während etwa gottesdienstliche und andere laut Andreas Weiß „klassische“ Handlungsfelder nachweislich weniger Menschen begeistern oder gar das kirchliche System auffrischen können (ja, böse „neoliberale“ Kennzahlen wie sinkende Gottesdienstbesuche sind trotz – oder wegen? – der kollektiven existenziellen Pandemieerfahrung durch nichts schönzureden), habe ich in den „nice to have“-Segmenten, in denen ich bis dato mitarbeiten durfte, bereits viele energiegeladene, gesellschaftsübergreifende und kraftvolle Momente kirchlichen Handelns erlebt:
- wenn etwa eine ganze Kohorte von – milde ausgedrückt – agnostisch eingestellten Künstlerinnen und Künstlern ohne mit der Wimper zu zucken mit einem begeisterten „Ja!“ auf die Frage einer Kunsthausleiterin antwortet, ob sie bei einem großen – und von der Diözesanleitung wirklich voll unterstützten – Kirchenjubiläum ihre durchaus kritische Hand im Bereich Glaube Liebe Hoffnung anlegen will. Laut dem kirchlichen Chefkurator war es „die schönste Kooperation“, die er je erlebt hat. Einer dieser kirchenfern aufgewachsenen Künstler arbeitete sich so intensiv in die religiöse Bilderwelt und den Glauben hinein, dass er schon zum wiederholten Male in einem kirchlichen Haus gezeigt wird.
- wenn mir eine aus dem südlichen Balkan stammende Studentin bei der von jungen Menschen jedes Jahr regelrecht gestürmten Graz International Summer School Seggau bass erstaunt mitteilt, dass es für sie im positiven Sinne unglaublich ist, dass die katholische Kirche hier eine so weltoffene Veranstaltung macht. Sie kannte Kirche „so“ nicht.
- oder wenn etwa eine völlig ohne missionarische oder „pastoral vereinnahmende“ Hintergedanken organisierte Open Stage-Musikveranstaltung in der grünen Begegnungszone vor der Grazer Uni-Kirche zu einem Publikumsrenner wird, der vom Priester bis zur veganen Yoga-Lehrerin eine bunte Gruppe an Menschen zusammenbringt und diesen „Vorraum“ der Kirche in die „mental map“ der Besucherinnen und Besucher emotional einschreibt.
All das habe ich als Kultur- und Bildungsarbeiter in den „nice to have“-Bereichen des kirchlichen Kosmos in der Steiermark erlebt und diese Liste ließe sich beliebig fortführen. In diesen Grenzbereichen, in diesen milieuübergreifenden Membranen finden jene, die nicht allzu sehr an liturgisch-pastoralen Tätigkeiten interessiert sind und sich auch für die überkommene katholische Funktionärshuberei nicht erwärmen können, attraktive und den Intellekt nicht beleidigende „Einfallstore“ vor, um mit Kirche in Kontakt zu kommen. Ohne eine solche mir das Kirchliche zugänglich machende Membran, das Studienförderungswerk PRO SCIENTIA, wäre auch ich jetzt nicht hier, in einem Zentrum für Gegenwart, Kunst und Religion in Graz und würde nicht an diesem Text tippen.
Offenheit und Mut in der Krise
Noch gibt es sie, diese Membranen, gerade hier in dieser Diözese. Eines sei hier mit Nachdruck positiv angemerkt: Trotz härtester Sparpakete und einschneidender Kürzungen verfolgt die Katholische Kirche Steiermark im Feld Bildung, Kunst & Kultur den kühnen Plan, inmitten eines kulturell und wirtschaftlich und gastronomisch pulsierenden Viertels ein neues Haus zu schaffen. Ein Zentrum, das einen bereits existierenden pfarrlich-monastischen Ort um die genannten drei Säulen kreativ und zukunftsorientiert bereichern wird. Es wird ein offenes Haus mit offenen Höfen und einladenden Architekturen werden, ein neuer Kirchort also. Die hier verantwortlichen Entscheidungsträger handeln daher nicht rein krisengetrieben und moderieren nicht nur den Niedergang ab, sondern wollen eine kraftvolle, energiegeladene und nach vorne blickende Kirche. Denn dieses bisher oft als „nice to have“ missverstandene katholische Handlungsfeld ist gar nicht nice. Es mag eher intellektuell grundiert, eher kopflastig sein, ist aber über pulsierende Arterien und Kreisläufe mit dem Herz der Kirche und mit dem Weltkörper verbunden (gut, das war jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber das Bild bietet sich an).
Die Kirche – und mit ihr die Gesellschaft, die davon wirklich bereichert wird – braucht griffige Themen, Pop, Gesellschaftspolitik! Sie braucht „Grenzbereiche“, die nicht gleich auf den Glauben und das Kerngeschäft zielen, sondern über Umwege die Menschen zur Auseinandersetzung mit religiösen Fragen und – ja, das wäre ein echtes „nice to have“, das diesen Namen verdient – letztlich auch zum Glauben selbst bringen können. Man kann auch „über den Kopf zum Herzen“ kommen, wie eine evangelische Stimme das in der deutschen Zeit einfordert:
Was die Kirche tun könne, sagt [Pastorin] Wilcke, sei: Haltung zeigen. Klarmachen, dass Gottes Schöpfung vor dem Klimawandel bewahrt werden müsse. Dass wir Geflüchteten mit Solidarität begegnen sollten. Die Leute mit relevanten Themen überzeugen, nicht mit persönlichem Glauben. Über den Kopf zum Herzen also, ein Umweg.
Florian Traussnig