Der doppelte Gast: Thomas Ballhausen und Helwig Brunner
Barbara Rauchenberger, Einführung in den Abend des 25. September 2020 im KULTUM.
Herzlich willkommen!
Es ist der erste Abend nach einer längeren literaturfreien Zeit hier im Kultum - hat ja nicht nur Corona neue Spuren hinterlassen, sondern da gibt es auch einige alte Verknickungen, durch die ich ehrlicherweise wie die dreizehnte Fee zum Kind Literatur gekommen bin und dieses Kind sollte nun endlich wieder gewiegt werden dürfen. Und was wiegt schwerer und schöner als Lyrik. Also wird es vermehrt Lyrik geben. So einfach nämlich möchte ich die neue Ausrichtung hier in Zukunft begründet wissen. Es wird die Reihe Literatur>< gegenüber geben, die Sparte "Nachwort der Dichter", sowie ein "Literaturhotel" und eben die Reihe "Der doppelte Gast", der Lyriker und Lyrikerinnen paarweise einlädt.
Der Titel für diese Reihe fiel mir ein, nachdem ich zum ersten Mal Kontakt mit Thomas Ballhausen hatte und in der Nacht darauf einen illustren Traum hatte: Ich träumte von einer Waldlichtung mit einer prall gefüllten Futterkrippe um die nicht nur Rehe und Hirsche standen, sondern auch Löwen, Schwäne und Tauben, Füchse und Nashörner…. Also, der doppelte Gast! Die nächsten Paare werden sein: Franz Dodel, der Mila Haugova eingeladen hat und Christoph Wenzel, der sich Karin Fellner gewünscht hat.
Barbara Rauchenberger, die neue Kuratorin für Literatur im KULTUM, führt in ihre konzipierten Literatur-Reihen ein.
Nun aber zu Thomas Ballhausen. Er wurde 1975 in Wien geboren, ist Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie, Philosophie und Sprachkunst in Wien und wurde für sein literarisches Werk mehrfach ausgezeichnet, zudem ist er seit 2012 ordentliches Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Und ich freue mich, dass er seinen letzten Lyrikband „Das Mädchen Parzival“, erschienen bei Limbus, nun hier vorstellt. Geplant war diese Lesung ja bereits im Frühling, da war auch dieses Buch noch etwas frischer. Es erschien ja bereits im Herbst 2019. Dennoch ist das Mädchen Parzival nicht von gestern, wie Thomas Ballhausen schreibt, sondern das neue Heute, das an kein Ende kommt. So nimmt uns TB mit diesem Gedichtband gleichsam in Sagenhaft. Der Rest, so schreibt er, ist Ritterschaft und bringt historische Helden und mythologische Figuren aufs Tapet, greift schreibend auf die großen Narrative der Menschheit zurück. Einmal ganz Liebhaber, einmal tiefgehend, dann wieder kaltschnäuzig mit einem kräftigen Schuss Schwarz erzeugen seine balladenhaften Texte einen zeitlosen Nachhall. Fragen nach Mechanismen menschlichen Handelns und der Verfasstheit von Ritualen werden laut; TB zerlegt dabei althergebrachte Machtmuster, lässt Geschlechterrollen bersten und bleibt bei all dem ein Erzähler filmischen Ausmaßes: Die Intensität der Sprache ist körperlich spürbar. Sie changiert von tabuhaft zu lustvoll und ergießt sich immer wieder in düstere Wortkaskaden. Nun ist der Narr Parzival aus dem mittelhochdeutschen Versroman des Wolfram von Eschenbach eine der am häufigsten aufgegriffenen Figuren der Literaturgeschichte. Aber dieser Narr steckt hier in einem falschen Körper, also ist er ein Mädchen. Sehr frei, sehr frech, ein Hitzwesen, ein Bündel moderner Nerven, wie es Ballhausen beschreibt. Dieses Gedicht (und natürlich noch einige andere in diesem Buch) bietet somit Sätze in einer Vielzahl von Formen und Tonlagen, neue Zeilen reiben sich an Alten, bewegen sich im Unterholz, schleichen herum und treiben ihr Unwesen, manche im Verborgenen, andere für jeden zu sehen und benannt. Als Leser, als Leserin wird man angestiftet, aktiv zu werden und sowohl die Ausgangssätze zu identifizieren als auch das Neue zu suchen. Aufgelesen und neu zusammengesetzt ergeben die Bruchstücke etwas Neues, Anderes. Aber immer in Schwebe ausharrend. Die Hilfslinien die es braucht um diesen Schwebezustand auch halten zu können, finden sich am Ende des Bandes notiert und angeführt und reichen von Abramovic, über Blumenberg, bis zu Wittgenstein. Immer aber ließ mich dieses Ballhaus in SCHWEBE aufhorchen, hören sie nun selbst…
Thomas Ballhausen liest aus "Das Mädchen Parzifal" (2019)
Der nächste Gast im literarischen Ballraum ist Helwig Brunner. (Ich werde bei Thomas Ballhausen dann auch nachfragen, warum Helwig Brunner…) Aber lassen wir das noch in Schwebe…
HELWIG BRUNNER, wurde 1967 geboren, studierte Biologie und Konzertfach Violine in Graz, ist als Autor, Herausgeber der Buchreihe keiper lyrik, Mitherausgeber der LICHTUNGEN und Geschäftsführer eines ökologischen Planungsbüros tätig. Und in Graz bekannt wie ein grüner Hund!
Und bitte auch noch dazu denken: Zahlreiche Bücher, viele Preise und Förderungen.
Schon mit den ersten Zeilen, die man von Helwig Brunner liest, wird man aufmerksam: der hat natürlich andere Augen und Ohren. Man sieht wunderbare Wald und Wiesenvermessungen, hört stille, große Töne! Und wirklich kein Kitsch, keine Spielchen, kein Überschwang! Und seine Texte bestechen durch klare Konstruktionen und sehr sensiblen Sprachumgang, kein Wort ist zu viel und die Bilder, die er wählt, schaffen sich stets einen neuen, einen eigenen Ort, an dem sie bestehen können. Bei mir liegt dieser Ort meist hinter den Ohren. Was natürlich nichts heißt, weil vielleicht bei Ihnen der Ort unter der Nasenspitze liegt, oder zwischen den Fingern… Immer aber sind seine Texte emotional, lakonisch, listig, schön, schlau und skurril, selbst dann, wenn Sprachskepsis anklingt und laut wird, findet der Leser, die Leserin wunderbar tröstliche Melodien. Und selbst der Zweifel äußert sich noch in einer picobello Sprachkunst.
will mir scheinen, das Gedicht habe sich in sich selbst nie ganz wohlgefühlt. Das Gedicht steht dem Gedicht im Weg! Vielleicht ist, wovon ich reden will, ein subjektives, privates, individuelles Problem, eine nicht weiter interessante persönliche Ermüdung am Gedicht, eine Refraktärphase (falls ihnen dass nun kein Begriff ist; kommt aus der Biologie, der Medizin und meint sehr salopp formuliert: eine Nervenzelle kann, nach dem sie reagiert hat, eine Zeit lang auf keinen Reiz mehr reagieren) meines alternden Lese- und Schreibnervs, in der dieser nicht mehr auf erneute Gedichtreize zu reagieren bereit ist. Oder aber ich sehe gerade dem Gedicht dabei zu, wie es sich (einmal mehr) von sich selbst zu befreien trachtet, sein Eigentliches freilegt und ein Sprechen an sich wird.
Und das heißt, dass sich die aktuelle Lyrik Brunners, zuletzt unter anderem unter dem Titel bauteile für sprengsätze in der Zeitschrift manuskripte erschienen, konsequent von den herkömmlichen Gestaltmerkmalen dieses Genres losgesagt hat und sich zumindest in ihrem Erscheinungsbild hart an der Grenze zur Prosa bewegt bzw. diese Grenze auflöst. Was also anfangen mit so einem Ballgast, der sein aktuelles Verhältnis zur Lyrik als prekär, brüchig und flackernd beschreibt; der, um mit dem Gedicht überhaupt noch irgendwie zurechtzukommen, radikal auf dem Rückzug aus dem Gedicht ist. Und dabei wunderbare Gedichte wie nebenbei fallen, nein er lässt sie wie Stützen liegen, aber hören sie selbst…
"Gedichte sollen und wollen in das sonst Nicht-Sagbare eindringen":
Der dritte Teil des Abends war ein Fach-Gespräch der beiden Schriftsteller zur Frage, was Lyrik kann, warum sie als Forscherin gelten kann und nicht als Wissenschaft.